„Es klingt, als wären Sie eine Architektin, die neuartige Bauwerke errichten möchte. Bauten, die Sie offenbar der Natur abgeschaut haben.“
Anja drehte sich abrupt um. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Überraschung wider.
„Sie scheinen doch Ahnung von Kunst zu haben und zumindest mein Konzept in Ansätzen zu verstehen.“
Wolf zuckte mit den Schultern. „In vielen Dingen ist die moderne Kunst mir unverständlich, aber ich kann gewisse Thesen, die ein Künstler zum Ausdruck bringen will, selbst mit meinem geringen Verständnis durchaus nachvollziehen. Trotz allem bleibe ich lieber bei meinem Beruf.“
Anja presste den Block fest an ihren Oberkörper. „Erst wollte ich Sie wirklich wieder fortjagen, denn ich war der Überzeugung, dass es sich bei Ihnen um einen absoluten Ignoranten handeln würde, aber Sie besitzen durchaus ein gewisses Kunstverständnis. Etwas, das nach meiner Einschätzung bei Ihrer Berufsgruppe sehr selten ist. Dummerweise sollen Sie mich sogar für eine längere Zeit begleiten ...“ Sie runzelte die Stirn. „Da ich keine Lust habe, mich erneut mit meinem lieben Vater auseinanderzusetzen, können Sie meinetwegen in meiner Nähe bleiben, solange Sie mich nicht während meiner Arbeit stören. Jedoch stelle ich eine Bedingung.“
Raphael unterdrückte einen Seufzer. „Wie lautet sie?“
„Sie müssen meinen ...“ Ein verlegener Ausdruck huschte kurz über ihr Gesicht. „Sie müssen meinen ... Freund spielen. Immerhin sollen Sie mich wohl auf Schritt und Tritt begleiten.“
Wolf öffnete den Mund, um ihn gleich wieder zu schließen. Ihm fehlten die passenden Worte. Was sollte er darauf erwidern? Er fragte sich, was ihr Vater zu dieser Idee sagen würde. Immerhin sollte er nach dessen Vorstellung lediglich den Beschützer spielen.
Anja trat näher an ihn heran. „Jetzt seien Sie bloß nicht so entsetzt darüber. Ich denke, Ihnen dürfte schon Schlimmeres widerfahren sein. Oder finden Sie diese Vorstellung grauenvoll?“
Wolf schüttelte hastig den Kopf. „Keineswegs. Sie sind sehr ... attraktiv. Aber ich hatte angenommen, Sie haben einen festen Freund?“
Anja berührte ihn mit dem Zeigefinger an der Brust und fuhr leicht zu seinem Bauch hinab.
„Sie meinen Christoph? Jeder geht davon aus, dass er mein Freund ist, am meisten er selber. Er ist nett, jedoch bestimme ich, mit wem ich mich einlasse. Wir haben bisher keine sexuelle Beziehung, was auch niemals passieren wird. Und außerdem habe ich Ihnen nicht vorgeschlagen, mit mir ins Bett zu gehen. Sie sollen lediglich so tun, als ob wir ein Paar wären. Machen Sie sich daher keine Gedanken über Christoph. Er wird schon klarkommen. Er versteht es, mehr als Sie ahnen. Also, akzeptieren Sie meinen Vorschlag?“
6
Er war auf dem Weg zu einer weiteren Julia. Ohne ihr Wissen war ihr diese besondere Rolle zuteil geworden. Dennoch hatte sie ihr bevorstehendes Schicksal nun einmal selbst erwählt. Sie gehörte einfach zu den vielen Frauen, die sich nicht gerade klug verhielten. Warum hatten sie sich auch mit der falschen Julia eingelassen? Wussten sie nicht, dass es nur die eine Julia geben konnte? Die einzig wahre und nicht diese Hexe, mit der sie sich abgaben?
Wenigstens kamen sie dadurch in den Genuss, einmal eine große Rolle spielen zu können. Er war so dankbar, dass er ihnen auf diese Weise ihre Fehler verdeutlichen durfte, nein, musste. Und es kam zudem seinen eigenen Sehnsüchten entgegen, endlich seine größte Rolle im wahren Leben spielen zu dürfen. Er hatte bereits als Kind davon geträumt, besonders, als er später dann seiner echten und einzigen Julia begegnet war.
Sobald er eine der gehorsamen Dienerinnen der falschen Julia erwählt hatte, nahm sie den Platz in dem wunderbaren Stück ein. Sie erhielt die Rolle seiner Julia. Aber nur für die Dauer des Schauspiels. Für den Moment, in dem er ihr ihren einzigen Auftritt schenkte.
Heute hatte er sich jedenfalls sie ausgesucht, um ihr ein großes und unvergessliches Spiel zu ermöglichen. War es nicht gleichzeitig ein großzügiges Geschenk an sie? Auch wenn sie die Wahrheit nicht erkannte? Es würde ihre erste und gleichzeitig letzte Vorstellung werden. Jedenfalls schwante ihr nichts von dem drohenden Unheil. Woher auch? Jede dieser Frauen war vollkommen arglos. Eigentlich waren sie wundervolle Geschöpfe, denen noch eine vielversprechende Zukunft bevorstand. Ja, wenn sie nur nicht den größten Fehler ihres Lebens begangen und sich somit dem Tode geweiht hätten. Erst recht, wenn sie bei IHR mehr als nur Freundschaft suchten und auch ... fanden.
Unbändige Wut und lodernder Hass stiegen in ihm auf, als ihr Gesicht vor seinem geistigen Auge auftauchte. Er ballte die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß wurden. Mit aller Macht unterdrückte er seine Gefühle. Er musste sich beherrschen, sich unter Kontrolle halten. Keinesfalls durfte er sich von diesen Emotionen leiten lassen, sonst würde er am Ende alles vermasseln. Das war nicht sein Plan.
Um Romeos Mundwinkel legte sich ein grimmiges Lächeln. Es war schon wie bei Troilus und Cressida. Was für eine schicksalhafte Liebe hatte dieses Paar ereilt! Letztendlich hatte die Trojanerin das Herz des Bruders des berühmten Paris gebrochen. Es waren immer wieder die Frauen, die große Männer und mutige Helden mit ihren Versprechungen zerstörten oder gar in den Tod trieben.
Es wurde Zeit, dass sich dies änderte. Er würde kein Gift trinken, solange die falsche Julia noch am Leben war. Er würde sich nicht einfach dem Tod hingeben wie Tristan, als er über die Rückkehr seiner großen Liebe belogen wurde, oder seiner Macht berauben lassen wie einst Samson, der Delila das Geheimnis seiner Stärke offenbarte und von ihr in eine Falle gelockt wurde, wodurch er in die Gefangenschaft der Philister geriet.
Nein, dies wird nicht geschehen!
Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Er wollte der wahren Julia zu ihrem gerechten Ruhm verhelfen. Aus diesem Grund musste er weiterhin seine Rolle als Romeo spielen, was ihm nicht schwerfiel. Schon sein ganzes Leben musste er seinen Mitmenschen etwas vorspielen, musste eine Rolle ausfüllen, die er, seit er sich seines wahren Wesens bewusst geworden war, nicht mehr besetzen wollte. Widerstrebend hatte er sich dem Willen seiner Eltern gebeugt, bis er erkannt hatte, dass es ihn zerstörte, seine Seele in Fetzen riss. Zu seinem Glück fand er in der Schule eine Möglichkeit seinen Geist vor dem endgültigen Fall in den Wahnsinn zu bewahren. Alles hätte gut werden können, wenn nicht der Tag der Aufführung zu seiner bittersten Stunde geworden wäre.
Ich bin Romeo!
Für immer!
Ihm hatte die Rolle zugestanden. Doch er hatte sie nicht spielen dürfen. Sie hatten ihn nicht berücksichtigt, weil sie ihn nicht für geeignet hielten, weil ausgerechnet dieses verlogene Miststück in dem Stück auftreten musste, nachdem seine Julia für immer gegangen war. Selbst davor war sie nicht zurückgeschreckt.
Brodelnder Hass kochte erneut in seinen Adern. Doch jetzt war er Romeo und diesmal würde er das Ende des Schauspiels nach seinen Regeln bestimmen. So, wie er es bereits getan hatte. So, wie er es wieder tun würde.
Lächelnd glitten seine Finger über den weichen Stoff, den er in seiner Umhängetasche verbarg. Die Berührung beruhigte ihn, brachte ihn dazu, tief durchzuatmen und sich auf sein Ziel zu besinnen.
Es war genau der Schal, der ihm bereits einen guten Dienst geleistet hatte. Wieder würde er ihn einsetzen, um die nächste Julia in die Ewigkeit zu befördern, wo sie der wahren Julia zu Diensten sein durfte. Und um dieses falsche Biest leiden zu lassen. Noch ahnte sie nicht, in welchen Schwierigkeiten sie steckte. Bald würde sie erneut den Schmerz spüren, wieder daran erinnert werden, dass es nicht vorbei war, dass jeder sterben musste, dem sie ihre Liebe schenkte. Sie war schuld daran, dass die wahre Julia niemals ihren Auftritt erlebt hatte.
Julia! Warum musstest du sterben? Meine große und einzige Liebe! Ich kann dir noch nicht folgen.
Eine tiefe Befriedigung erfüllte ihn, wenn diese verirrten Seelen unter seinen Händen ihr Leben aushauchten, der Funken in ihren Augen erlosch. Es entschädigte ihn für die vielen Schmerzen und gewährte ihm einen tiefen, alles erfüllenden