Die Spurensicherung hatte seit einigen Minuten den erweiterten Tatort bereits weiträumig abgeriegelt. Lopez zog das Absperrband hoch und kroch stöhnend darunter hindurch. Er hörte die Stimmen, die eindeutig aus dem größten Raum des Hauses zu kommen schienen, dem Wohnzimmer.
„Hola Rafael, sehen Sie sich das an. Wäre es nicht so dramatisch, könnte man denken, dass es ein Kunstwerk sei. Sie hatten so viel Platz, und liegen jetzt doch auf vielleicht noch nicht einmal zehn Quadratmetern zusammen.“
Lopez sah zunächst einen alten Klavierflügel. Neben diesem lag blutend auf der einen Seite eine auf dem Bauch liegende Frau und auf der anderen Seite ein blutender, ebenfalls auf dem Bauch liegender Mann. Sein Kollege hatte recht. Wie ein Kunstwerk oder das dramatische Ende einer Oper auf der Bühne. Lopez hatte vom Auto aus seinen Kollegen Antonio Díaz um Hilfe gebeten, da er kollegiale Verstärkung benötigte. Díaz traf bereits zehn Minuten später ein, wie man an seiner unverkennbaren typischen Bremsspur hören konnte.
„Hola Antonio, ich schlage vor, dass wir das Haus zunächst auf eventuell weitere vorhandene tote oder lebendige Personen inspizieren.“
Antonio, der nicht wusste, ob Lopez nach diesem Satz Applaus erwartete, ging zur großen Marmortreppe.
„Da man sich in diesem Haus verlaufen kann, schlage ich vor, dass wir beide besser zusammenbleiben, falls einer von uns in Gefahr geraten sollte.“
Beide Kommissare liefen bewaffnet alle Räume pedantisch ab, aber in keinem der vier Bäder oder zehn großen Zimmer konnten Personen gefunden werden. Auch auf den luxuriösen Terrassen sowie den dazugehörigen Schwimmbädern gab es keinerlei Auffälligkeiten. Díaz beschloss aufgrund seiner vielen anderen offenen Fälle zunächst zurück zum Präsidium zu fahren und seinen Kollegen erst wieder später bei seinen Aufgaben zu unterstützen. Lopez beobachtete unauffällig die Arbeit der Spurensicherung. Interessant wurde es, als zunächst die Frauenleiche auf den Rücken gedreht wurde. Er musste sich setzen. Als er erneut die Leiche des Mannes auf dem Rücken liegen sah, war er froh, dass er nicht stand. Er kniff in seinen Arm, um festzustellen, dass dieser Anblick kein Traum, sondern pure Realität war. Die aufgequollenen Lippen und die blonden Haare der Dame waren blutüberströmt. Man hätte denken können, dass es die Farbe Ihres letzten Luxuslippenstiftes sei. Eine ihrer aufgeklebten Wimpern lag wie ein Teil eines kleinen Besens einsam auf dem gefliesten Boden. Die von einem Schönheitschirurgen operierte Nase sah mit Sicherheit noch schlechter aus als ihre ursprüngliche Originalnase vor der Operation. Drei ihrer knallroten Fingernägel waren abgebrochen und lagen wie Konfetti neben ihr. Lopez fragte sich, ob sie die beiden implantierten Brüste bei ihrem Aufprall schützen konnten, aber das war eindeutig nicht der Fall. Er wusste, dass er solche gehässigen Gedankengänge vermeiden sollte, aber leider konnte er sie sich nicht verkneifen. Und: Die Gedanken sind frei. Aber die größte Überraschung war, dass es sich um Botox-Barbie handelte, die gestern Abend einen Tisch vor ihm im Restaurant saß. Der Mann wurde von der Spurensicherung bisher noch nicht umgedreht, aber Lopez war sich ziemlich sicher, dass es allein von der Statur her der bekannte Investor Gerald Fuchs sein musste. Bereits die spärliche, sichtbar gefärbte Haarpracht von hinten, ließ auf ihn schließen. Auch er war auf dem Rücken liegend blutüberströmt. Im Gegensatz zu seiner Frau fehlte die rechte Hand. Sie wurde eindeutig abgehackt, war allerdings auf den ersten Blick nirgendwo zu finden. Seine rote Designerbrille hing schief und zerbrochen auf seiner blutigen Nase. Seine Nasenlöcher waren mit Tonerde zugeschmiert, genauso seine Ohren. Er musste einen qualvollen Tod erlebt haben, aber das würden die Ergebnisse der Pathologie noch zeigen. Lopez betrachtete den zwischen ihnen stehenden, alten, transparent lackierten Flügel mit wunderschönen Intarsien. Allein der Halter für das Notenbuch war ein Kunstwerk für sich. Hersteller war Steinway & Sons, das Herstellungsjahr laut Aufschrift 1918. Es konnte sich hierbei vermutlich nur um ein Dekorationselement in dem eintönig in Weiß gehaltenen Designerraum handeln. Lopez erinnerte sich daran, dass seine Eltern früher auch ein einfaches Klavier in der Wohnung stehen hatten, allerdings mussten sie es aus Platzgründen verkaufen. Ihm war in Erinnerung geblieben, dass durch die feuchte, salzige Luft auf der Insel, und die Heizgewohnheiten im Winter, fast jedes Klavier nach einer gewissen Zeit automatisch in Pension geschickt wurde. Er wusste, dass auf einer Finca bei Sant Joan Pianos und Flügel verkauft werden, die das Glück hatten, überholt zu werden. Dennoch gab es auf Mallorca immer noch genügend Konzertflügel, die für professionelle Pianisten so gut wie unbespielbar waren. Auf dieser Finca konnte man auch ein spezielles maritimes Instrument kaufen, das den extremen Belastungen widerstand. Lopez stellte fest, dass er trotz seiner erbärmlichen Klavierpraxis von früher doch mehr Ahnung von Klavieren hatte, als er dachte.
„Rafael, sie gucken den Flügel so sehnsüchtig an. Wahrscheinlich, weil Sie es aufgrund des Alters schön finden, aber legen Sie sich mal unter den Flügel. Jetzt, wo wir alle Spuren gesichert haben dürfen Sie das.“
Lopez ging auf seine Knie und schaute sich die Unterseite des Flügels an. Er war fassungslos. Unterhalb der Tastatur befanden sich zwei kleinere, aus Holz eingebaute Kästen, die frisch aufgebrochen wurden.
„Es scheint, als dass der Flügel für irgendein Versteck genutzt wurde. Es sieht aus, als ob sich in den beiden Kästen auf jeden Fall etwas Wertvolles befunden hatte. Sie wurden so geschickt eingebaut, dass man sie selbst bei einem Umzug nicht sehen konnte. Dieser Fund gibt dem Fall eine spezielle Note, umgeben von Noten.“ Lopez lachte laut über sein Wortspiel in Erwartung weiterer Anerkennung, die allerdings keinerlei Anklang fand.
„Gut erkannt lieber Kollege. Ich glaube, da haben Sie in der nächsten Zeit eine harte Nuss zu knacken. Wir werden die Leichen jetzt abholen lassen und der Pathologie übergeben. Unsere Erkenntnisse teilen wir Ihnen so schnell wie möglich mit.“
Lopez kroch erneut ächzend unter das Klavier und machte mit seinem Handy detaillierte Aufnahmen der beiden aufgebrochenen Kästen.
„Übrigens, diese Siurell lag versteckt im hinteren Kästchen. Es handelt sich von der Verarbeitung her um dieselbe Tonfigur wie die vom Kreuzfahrtkapitän. Allerdings nicht als Inkarnation eines Kapitäns. Bei dieser Siurell handelt es sich um ein Pärchen, das eng umschlungen ist. Wir haben keine Ahnung, wen es darstellen soll, aber das herauszufinden ist ja auch Ihre Aufgabe.“
„Danke für diesen Hinweis“ rief Lopez unter dem Klavier liegend in den Raum hinein. „Das hätte ich ohne Sie nicht gewusst.“
Lopez verließ sichtlich entnervt das Haus. Zu viele Dinge schossen ihm aktuell durch den Kopf. Er musste sich mit Díaz zusammensetzen. Dieser Fall schien doch sehr komplex zu werden. Díaz hatte ihm in der Vergangenheit besonders dann schon oft durch Ideen geholfen, wenn er fast aufgegeben hatte. Vielleicht lag es auch daran, dass ihm selbst von Kollegen eine immer zu korrekte und pedantische Arbeitsweise vorgeworfen wurde. Eine Eigenschaft, die bei den Mallorquinern häufig negativ behaftet und eher den Deutschen zugeschrieben wurde. Diese Art hinderte ihn leider oft daran, Fälle etwas flexibler und kreativer anzugehen. Díaz dagegen stellte das genaue Gegenteil dar. Seine Arbeitsweise basierte eher auf Einfallsreichtum und Fantasie, die dann bei der eigentlichen Arbeit danach von etwas Chaos durchsetzt war. Man sagte ihm auch eine sehr diplomatische Arbeitsweise nach.
„Antonio, ich bin auf dem Weg zurück zum Präsidium. Mir schwirren so viele Dinge im Kopf herum. Ich muss sofort an mein Reißbrett und alles aufzeichnen.“
Díaz schlug mit seiner Handinnenfläche auf seine Stirn.
„Erst setzen wir uns zusammen, um die Zeit bis zu den Ergebnissen der Spurensicherung und der Pathologie zu überbrücken, und dann kommt das Reißbrett, okay?“
Lopez schluckte hörbar.
„Vale Antonio. Wäre es möglich, dass wir das Ganze bei einem kleinen Mittagessen im Büro vollziehen? Mein Magen ist schon etwas gereizt. Ich werde uns auf dem Rückweg etwas besorgen und mitbringen.“
„Sehr gerne Rafael. Ich freue mich auf unser Meeting.“
Lopez fuhr zum Restaurant