Lopez konnte diese Tatsache nicht beunruhigen. Er schrieb zunächst das Protokoll zu Ende und beschloss danach seinen Arbeitstag zu beenden. Er wusste, dass in den nächsten Tagen und vielleicht sogar Wochen, sehr viel Arbeit und einige Überraschungen auf ihn und sein Team zukommen könnten.
TAG ZWEI
Lopez wippte ungeduldig auf seinem abgewetzten Bürostuhl hin und her. Er schaute auf seine kitschige Wanduhr. Diese bestand aus einem Brett aus Olivenholz mit dem bunten Motiv einer Ziege. Der kleine Zeiger stand bereits in Höhe der Ziegenhörner und er wusste, dass die Pathologie in den nächsten Minuten anrufen würde. Dennoch erschrak er, als genau in dieser Sekunde sein Telefon klingelte. Allerdings war es kein interner, sondern ein externer Anruf.
„Buenos días Kommissar Lopez. Ich bin von der Guardia Civil in Campos. Wir wurden heute Morgen früh von einem Bauern angerufen. Er entdeckte ein Fahrrad, das neben einem Brunnenschacht auf seinem Feld nahe seiner Finca in El Palmer lag. Zunächst dachte er, dass es geklaut wurde und der Dieb es aus schlechtem Gewissen einfach spontan entsorgte. Beim Herunterschauen in den Schacht allerdings machte er eine grausige Entdeckung. Metertief lag unten ein blutiger, regungsloser Körper im Wasser. Wir sind vor Ort, und es sieht wirklich schrecklich aus. Der Brunnen ist circa zehn Meter tief, und Gott sei Dank nicht wie andere auf unserer Insel, dreißig oder vierzig. Wir haben bereits die Spurensicherung informiert und bitten Sie auch sofort hierher zu kommen.“
Lopez schob die stillose, leere Vase auf seinem Tisch nach vorne und nach hinten. Er wusste, dass seine wenigen Kollegen mit Kriminalfällen aller Art mehr als versorgt waren. Auch Antonio Díaz erstickte vor Arbeit. Der Einzige, der im Vergleich dazu noch etwas Luft hatte, war er selbst. Sein geplanter Tagesablauf war damit Geschichte.
„Vale, ich bin in vierzig Minuten bei Ihnen und mache mir ein Bild. Hasta luego.“
Lopez fuhr mit Zigarette im Mund die MA-19 entlang und fragte sich, was ein Radfahrer im Brunnenschacht zu suchen hatte. Seine Gedankengänge wurden abrupt gestoppt, als ein Anruf ertönte.
„Pathologie, guten Morgen. Dank einiger Überstunden können wir Ihnen bereits einige Ergebnisse unserer bisherigen Untersuchungen mitteilen. Kapitän Sturm wurde auf jeden Fall mit einem stumpfen Gegenstand von hinten erschlagen. Vermutlich mit einer Metallstange. Man sieht die geformte Hautblutung noch als Teilabdruck des Instruments. Es gibt die sogenannte „Hutkrempenregel“, das heißt, wenn die Verletzung oberhalb der Hutkrempe ist, handelt es sich um fremde Gewalteinwirkung. Ist die Verletzung auf oder unterhalb der Hutkrempe, weist dieses auf einen Sturz hin. Er musste bereits tot gewesen sein, als ihn der Mörder mit einem Anker am Boden fixierte. Insofern hat er nicht sehr gelitten. Danach wurde ihm die Zunge abgeschnitten. Die Spurensicherung konnte die Zunge nirgendwo finden. Wir vermuten, dass er sie entweder mitgenommen hat oder direkt im Meer verteilte, wo sie von den Fischen verspeist wurde. Die zweite Möglichkeit scheint wahrscheinlicher. Sandproben, die unsere Kollegen im Umkreis von circa dreißig Zentimetern um die Siurell herum mitnahmen, wurden auf Haare untersucht. Allerdings waren in den Proben keine zu finden. Der Mörder könnte vom Land aus tauchend zum Schiff gekommen sein. Das dürfte bei dem ruhigen Seegang der letzten Tage und der Nähe des Schiffes zum Festland kein Problem gewesen sein. Nachdem er Sturm dann erschlagen, den Zettel unter der Eisenstange fixiert und im Neptungras mit einem weiteren Anker versenkt hatte, wird er ihm, so vermuten wir es, die Zunge abgeschnitten haben. Die Kappe nahm er beim Zurückschwimmen mit an Land. Diese war unseren Untersuchungen nach ursprünglich nass und salzig sowie mit einigen Algen versehen. Auch die Siurell muss er die ganze Zeit in seiner Hosentasche gehabt haben, denn auch diese war vom Salzwasser angegriffen. An Land angekommen legte er diese in den Sand, die Kappe darüber und flüchtete. Persönliche Fußabdrücke haben wir keine, da der Täter Badeschuhe getragen hat. Wir konnten diese Abdrücke in einiger Distanz zu den letzten Ausläufern der Wellen finden. Glücklicherweise waren keine Flut und kein starker Seegang. Wir haben dadurch das Profil und die Größe der Schuhe, nämlich einundvierzig. Ohrringe hat der Kapitän nicht getragen, aber das wussten Sie ja schon. Tätowierungen oder sonstige auffällige Merkmale hat das Opfer nicht. Die KTU untersucht derzeit noch den Ohrring auf Hautschuppen.“
Lopez bedankte sich, während er langsam eine rote Ampel überfuhr. Er war bereits kurz vor El Palmer. Das geschehene Verkehrsdelikt schob er auf seine derzeitig mentale Belastung zurück. In diesem Augenblick war er froh, beruflich und nicht privat unterwegs gewesen zu sein. Durch die weitläufigen Felder zogen sich Schotterwege, die auch von vielen Radfahrern zu Touren benutzt wurden. Leider bewahrheitete sich das an dem teilweise rücksichtslos hinterlassenen Müll. In der Ferne winkte bereits der Kollege der Guardia Civil. Der Bereich um den Brunnen war großzügig durch die Spurensicherung abgesperrt. Neugierige Radfahrer wurden sofort durchgewunken. Lopez fuhr mit seinem SUV etwas aufs Feld und lief direkt zum Brunnen. Beim Anblick der Leiche erkannte er unter Zuhilfenahme der Lampe eines Kollegen, dass es sich um einen mit einer Radhose und einem Trikot bekleideten mittelalten Mann handelte. Er schien sich den Hals gebrochen zu haben. Abgesehen von Brüchen anderer Körperteile.
„Señor“, fragte Lopez den Bauern. „Wie kann es sein, dass das Opfer überhaupt in Ihren Brunnen fallen konnte?“
„Kommissar, die Öffnung ist schon ewig mit Pflanzen bewachsen. Ich weiß es, und fremde Personen dürfen eigentlich nicht auf mein Feld. Insofern bin ich nicht schuld.“
„Darum geht es jetzt nicht. Sollte es sich um einen Mord gehandelt haben, müsste jemand gewusst haben, dass hier ein Brunnen ist, den man im Falle eines Mordes dazu nutzen könnte. Es gibt so viele alte, teilweise auch versteckte Brunnen auf Mallorca und Hunderte von circa dreißig Zentimetern breiten Bohrlöchern, mit denen das unterirdische Wasservorkommen getestet werden soll. Warum wurde dann gerade dieser Brunnen genommen? Wem haben Sie jemals von ihm erzählt, oder wer hat ihn in der Vergangenheit jemals wahrgenommen?“
Der alte Bauer seufzte verzweifelt.
„Eigentlich wusste es nur meine Frau, und sie ist vor drei Jahren gestorben. Sie mochte den Brunnen auch nicht sehr. Er war ihr immer zu unheimlich. Helligkeit wie Sonne, Meer und leuchtende Felder, das waren eher ihre Farben. Radfahrer konnten den Brunnen nie sehen. Sie heizen vorbei, da dieser Weg eine der beliebtesten Routen durch das Landesinnere der Insel ist. Sie werfen höchstens mal die Verpackung ihres Riegels in die Natur und fahren dann schnell weiter.“
Lopez wusste, dass die Arbeiten der Spurensicherung noch lange andauern würden und auch das Bergen des Opfers erst gegen Abend erfolgen dürfte.
„Ich werde direkt auf meinem Rückweg die Pathologie um eine Art Nachtschicht bitten, da ich so schnell wie möglich wissen muss, ob es sich hierbei um Mord, Suizid, oder einfach nur um einen unglücklichen Zufall handelt. Die Identität des Opfers benötigen wir auch noch, um Zeugenaussagen zu erhalten. Nach dem Bergen der Leiche dürften wir weitere Informationen erhalten.“
Lopez beschloss zurück zum Präsidium nach Palma zu fahren, dabei aber vorher noch dem rechtsmedizinischen Institut einen Besuch abzustatten.
„Buenos días Carmen! Ihnen wird nachher ein Opfer vorbeigebracht werden, das in einem Brunnen tot aufgefunden wurde. Ich bitte Sie, die Untersuchungen auf folgende Punkte besonders zu überprüfen: Wurde der Tote ermordet, und wenn ja, durch was oder wie. Oder handelte es sich um einen Suizid? Oder war es Zufall? Der Tote ist Radfahrer. Ansonsten benötige ich Auffälligkeiten und generelle Angaben.“
Carmen schüttelte den Kopf und lachte laut. „Rafael, das sind ja ganz neue Aufgaben für mich. Kann es sein, dass Sie etwas überarbeitet sind?“
Lopez war beleidigt, musste aber böse Miene zum guten Spiel machen, da die Ergebnisse noch bis heute Nacht erarbeitet werden sollten.
„Ich kann es ja nicht so gut nachvollziehen, dass Sie, als Pathologin gerne gegrilltes