Lopez lehnte sich an die blau gestrichene Kabinenwand an und dachte sichtbar nach.
„Bevor ich den Yacht Charter Club kontaktiere, müsste ich noch wissen, ob Sie mitbekommen haben, dass er jemals in der Vergangenheit bedroht wurde. Sei es von Passagieren, Angestellten, Freunden oder anderen Personen.“
Holm rief den leitenden Ingenieur zur Runde dazu. Beide waren sich einig, dass Sturm nie über private Probleme gesprochen habe.
„Wissen Sie, Mallorca ist so etwas wie ein zweiter Heimathafen. Man legt an und fühlt sich gleich wie zu Hause. Geht der eine von Bord, muss der andere an Bord bleiben und umgekehrt. Nicht wie bei den schnulzigen TV-Sendungen, bei denen der Kapitän mal ein paar Tage von Bord geht und beim Ablegen wieder auftaucht.“
Lopez wusste, dass weder Holm noch der leitende Ingenieur aufgrund ihrer verpflichteten Anwesenheit an Bord zu den Tätern gehören konnten und bat zwei weitere Kollegen der Crew, deren Aufenthalt zu bestätigen.
Beide Kommissare beschlossen zunächst die nur fünfminütige Strecke zu dem Yacht Charter Unternehmen im Hafen von Port de Mallorca zu fahren, bei dem Sturm seine Privatyacht gemietet hatte.
„Hola, Buenos días! Wir möchten Sie darüber informieren, dass Ihre Yacht noch in Sa Rapita ankert und von unserer Spurensicherung untersucht wird. Hat Ihr Kunde das Boot allein betreten oder konnten Sie sehen, dass eventuell noch weitere Personen dabei waren?“
„Sturm chartert diese Yacht seit Monaten immer allein, fährt auch so los und kommt immer allein zurück. Was er während dieser Zeit unternimmt, wissen wir nicht.“
Lopez und Díaz hatten mit dieser Aussage fast gerechnet. Beide hofften in Kürze neue Erkenntnisse durch die Kriminaltechnische Untersuchung (KTU) zu bekommen.
Lopez brachte seinen Kollegen ins Präsidium und fuhr erneut nach Sa Rapita. Er setzte sich grübelnd in den Sand und schaute fast meditativ auf die meterlangen Seegraswiesen, die sich ins Meer hinauszogen. Ihn quälte die Frage, warum der Mörder Kapitän Sturm nicht weiter draußen im tieferen Wasser unterhalb der Yacht, sondern relativ nah am Ufer mitten in einem Seegrasteppich mit beschwertem Anker ertrinken ließ. Hatte diese Vorgehensweise einen Sinn, oder war es reiner Zufall? Lopez wurde durch das laute Motorengeräusch der startenden Yacht in seinen Gedankengängen gestört und sah, wie das prachtvolle Designerboot um die Ecke zurück nach Palma Richtung Yachthafen gefahren wurde.
„Hola Señor Lopez“ ertönte die bekannte Stimme seines Kollegen der Spurensicherung hinter ihm. „Wir haben unsere Arbeit beendet und werden sie direkt an die KTU zur schnellen Untersuchung weitergeben. Auf der Yacht lag unter der Eisenstange, mit der das Opfer aller Wahrscheinlichkeit nach erschlagen wurde, ein gedruckter Zettel. „Zerstörte Seegraswiesen und Entsorgung von Müll in deren Ökosystem entsprechen einem Massenmord.“ Zudem wurde ein Ohrstecker gefunden, der bei einem kurzen, aber heftigen Kampf verloren gegangen sein dürfte. Er muss dem Täter gehört haben, da Sturm keinen trug. Auf ihm abgebildet ist die Burg, der königliche Almudaina-Palast, der noch heute als Residenz des spanischen Königs dient, wenn er sich auf Mallorca aufhält. Daneben das Wappen der Insel, ein blauer Schrägrechtsbalken, der vier rote Pfähle überdeckt. Der Rest ist goldfarben.“
„Sie wollen wohl meine Aggressivitätsgrenzen austesten. Meinen Sie, dass ich als Mallorquiner nicht die Flagge von Mallorca kenne? Gegenfrage: Ist Mallorca eine Insel oder Festland?“
Beleidigt zog der Kollege seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche und fuhr mit den Indizien zur KTU nach Palma.
Fest stand, dass es sich bei dem Täter eventuell um einen überzeugten Mallorquiner gehandelt haben könnte. Vielleicht aber auch um einen Touristen, der den Ohrring einfach so in einem der zahlreichen Souvenirshops gekauft hatte. Für Lopez kam nun die Zeit, die er an seinem Job hasste und die hieß „Warten“. Warten, bis weiterführende Informationen halfen, die Suche nach dem Täter einzugrenzen. „Del dicho al hecho, hay mucho trecho“, auf Deutsch: „Leichter gesagt als getan.“ Lopez erinnerte sich an seinen letzten Fall des „Engelsmörders“, einem Serienmörder, der allen seinen Opfern Erzgebirgsengel an die Kehle legte. Es war zweifelsohne eine sehr interessante Erfahrung gewesen, die aus einer Deutsch-Mallorquinischen Kooperation mit diversen Kommissaren bestand. Auch hier war oft Geduld gefragt, die aber zum Schluss zu einem erfolgreichen Abschluss führte. Lopez hoffte, dass man durch Hautschuppen, die vielleicht noch am Ohrring hingen, weitere Erkenntnisse erreichen konnte. Er saß weiter grübelnd am Wasser. Ihn ließ nach wie vor nicht der Gedanke los, dass dieser Ort bewusst gewählt wurde. Ein Kreuzfahrtkapitän, der tot im Seegras versenkt liegt. Zwei Welten trafen aufeinander. Kreuzfahrtschiffe stehen bis heute für die Verschmutzung der Luft und des Wassers. Palma war oft Spitzenreiter bei der Luftverschmutzung durch Ozeanriesen in Europa. An vielen Tagen quoll seine geliebte Stadt zusätzlich zu den sonstigen Touristen über. Der Mord musste eiskalt geplant worden sein. Der Täter schien den Rhythmus und den Beruf seines Opfers zu kennen, da er regelmäßig an genau dieser Stelle ankerte. Warum hätte er sonst ausgerechnet eine Original Siurell in Form eines Schiffskapitäns hingelegt? Private Yachten lagen trotz hoher angedrohter Geldstrafen oft verboten in den Seegraswiesen, die Lebensraum für viele Meerestiere waren, und zudem ein Garant für sauberes Wasser, da es Kohlenstoffdioxid bindet. Der Mensch zog insbesondere auf Mallorca sehr großen Nutzen aus ihm. Neben Korallenriffen und tropischem Regenwald gehörte es zu den wichtigsten Ökosystemdienstleistern der Welt. Lopez wusste, dass dieses inzwischen sogar von Robotern und Booten von Umweltschützern überwacht wurde. Ihre größten Feinde waren die Yachten. Er zog sein Handy aus der Tasche. Achttausendfünfhundert dieser Boote sollen in den letzten zwölf Monaten im Poseidongras ihre Anker geworfen und es dadurch lokal zerstört haben. Er war begeistert von seinem meditativen Ergebnis. Es könnte sein, dass es sich bei dem Täter um einen militanten Umweltschützer handelt. Einer der einen Umweltzerstörer töten wollte.
Es war bereits später Nachmittag, Zeit für das „almuerzo“, das spanische Mittagessen. Die „Jefatura de Polícia“ lag in der Nähe des Passeig de Mallorca, einer Straße mit großer Auswahl an Tapas Bars, Cafés, Sterne- und Standardrestaurants. Lopez beschloss in die noch näher liegende Cafetaría Rosa zu gehen, in der es seines Erachtens die beste Tortilla von ganz Mallorca gab. Zudem stimmte das Preis-Leistungsverhältnis. Zufällig saß sein Kollege Díaz an der Bar und trank einen Cortado.
„Antonio, ich hätte Sie aufgrund Ihrer „Größe“ kaum an der Theke gesehen. Aber es gibt ja Gott sei Dank hohe Barhocker.“
Díaz wusste nicht, ob er den von Rafael humorvoll gemeinten Satz durch Lachen bestätigen wollte. Er entschied sich, diesen einfach zu ignorieren.
„Sie glauben nicht, zu welchem Ergebnis ich in der Zeit meines Aufenthalts am Meer gekommen bin.“ Lopez erzählte ihm seine Gedankengänge bis ins kleinste Detail und Díaz war begeistert.
„Eine bessere, logischere Erklärung für diesen Mord kann es eigentlich nicht geben. Wenn uns die Pathologie und die KTU jetzt noch stimmige Details mitteilen, könnten wir den Mörder vielleicht in den nächsten Tagen stellen.“
Lopez zahlte, und beide liefen zum Präsidium. Pedantisch tippte er jedes kleinste Detail des Tagesgeschehens in sein System ein, als unerwartet die Abteilung der Forensik anrief.
„Hola! Wir haben, wie immer zunächst versucht die daktyloskopische Untersuchung, also die Fingerabdrücke als Beweise zu nehmen. Allerdings ist es uns ausnahmsweise nicht gelungen, diese zu verwerten, was äußerst selten der Fall ist. Es gibt drei Möglichkeiten. Der Täter hat entweder eine extreme Abnutzung der Fingerkuppen durch seine berufliche Tätigkeit oder eine altersbedingte Abnutzung. Die zweite Möglichkeit wäre, dass der Mörder unter Adermatoglyphie leidet, also einer Genveränderung, die dazu führt, dass die Hautrippen an Fingern und Zehen nicht gebildet werden. Die Haut ist wie zum Beispiel am Bauch, einfach nur glatt. Es handelt sich hierbei allerdings um eine äußerst seltene Krankheit, sodass hier nur eine sehr geringe