Ich sauge die künstliche Luft ein, ertaste die Bilder, die ich in meinem Kopf male.
Es ist Zeit. Gleich wird sich die Schleuse zum Hologrammraum wieder öffnen. Die letzte Etappe vor der Verjüngung. Die noch zu absolvierende Prüfung dieses Zyklus. Ich wende mich ab, rutsche an der flachen Wand hinab, spüre die Kälte im Rücken und mache mich ganz klein.
Die Abtei ist mein Zuhause.
Mein schlichtes, graues Kleid ist das einzige Kleidungsstück, das ich besitze.
Verschlissen, vom Alltag gezeichnet.
Ich ziehe den dünnen Stoff runter über meine aufgeschürften, blutigen Knie. Erinnerungsstücke aus dem Kampftraining.
Ich lege den Schleier meiner pechschwarzen, glatten Haare über die entblößten weißen Arme. Überdecke die filigranen Muster auf meiner unverhüllten Haut, die mich verspotten.
Die Abtei erscheint mir fantasielos und nackt. Mich eingeschlossen. Ich benötige keinen Schrank für nur ein Kleidchen. Keinen Tisch für jemanden, der nicht zu essen braucht. Was ist Nahrungsaufnahme überhaupt?
Ich habe viel über Ernährung gelesen. Aber wie schmecken Speisen?
Ich wende mich ab, verhülle mit dem Kleid und meiner Mähne die unzähligen blauen, roten und grünen Flecken auf meinem jungen Körper. Es scheint einfacher aufzuzählen, wo ich nicht irgendein Schmerz verspüre. Lernen, trainieren und die Tests bestehen. Zyklus für Zyklus.
Ich blicke zu dem Buch, das ich dieses Mal gelesen habe.
Alles hat seine Zeit, lautet der Titel. Ich kenne seinen Inhalt auswendig.
Es handelt vom Altern. Etwas, das mich nicht betrifft.
Es führt auf, wie alt Menschen werden könnten.
Davon, dass Säugetiere rein theoretisch fünfmal so lange leben, wie sie wachsen. Es beschreibt, dass Menschen ihre Reife zwischen 18 und 25 Jahren erreichen und aus diesem Grund neunzig bis hundertfünfundzwanzig Jahre alt werden können. Der Autor selbst hat diese Gesetzmäßigkeit festgestellt.
Das Buch ist kompliziert geschrieben. Es ist viel schwerer zu verstehen als die vielen Geschichtsbücher, die ich gelesen habe.
Ich interessiere mich für Geschichten. Vor allem die aus der alten Zeit. Viele handeln von kriegerischen Auseinandersetzungen, Tod und Verwüstung. Darunter gibt es sehr alte Legenden. Der Mythos vom Fall Trojas ist eine davon.
Krieg, menschliche Fehler und die tief im Leben verankerte Nähe zu den griechischen Göttern stehen im Mittelpunkt. Die Sprache des Erzählers ist interessant, der Ausgang der Schlacht überraschend. Die weisen und edlen Männer, voran Priamos und Hektor, werden besiegt. Dank der entscheidenden Ideen eines Einzigen, der List des trojanischen Pferdes.
Ich frage mich oft, wenn all die Überlieferungen in den Büchern wahr sind, was ist es dann, das die Welt zusammenhält? Was bewahrt sie vor dem endgültigen Untergang? Vielleicht ist es das Gleiche, das mich zusammenhält? Plötzlich geht die Schleuse auf.
Der Hologrammraum öffnet sich. Es ist nun so weit. Ich stehe auf und mache einen Schritt vorwärts.
Es ist still, unheimlich lautlos. Das einzige, das Geräusche verursacht, bin ich. Ich höre meinen Atem, der schnell geht. Was wird es dieses Mal sein, das ich tun muss?
Ich gelange durch einen Durchgang, der sich summend geöffnet hat, betrete den blütenweißen Raum. Der Zugang schließt sich hinter mir, wie von Geisterhand berührt. Schriftzeichen materialisieren sich auf dem Türblatt. Das Licht dahinter erlischt. Der Ausgang ist versperrt. Mein Herz schlägt ruhig und gleichmäßig. Nein falsch! Es sollte verhalten und beständig schlagen, aber ich kann es in meinem Hals spüren, wie aufgeregt es ist.
Ich bin hier in dieser quadratischen, vollkommen leeren Halle eingesperrt, so lange, bis ich auch diese Aufgabe absolviert habe.
Die Wände flackern nun und der Boden flimmert. Alles bewegt sich.
Es sind Bilder, Projektionen. Die Sphäre verwandelt sich und ich stehe mittendrin in einer fremden Welt, drehe mich um meine eigene Achse und blicke nach allen Seiten.
Das Hologramm erzeugt Häuser, gewaltige Blocks und Wolkenkratzer ragen empor.
Überall sind Menschen.
Wahnsinnig viele kommen mir entgegen, gehen, rennen durch mich hindurch. Ich bin gefangen von den Eindrücken, dem Ausdruck der Angst in ihren Gesichtern. Sie eilen vor etwas davon. Laufen um ihr Leben. Dann plötzlich höre ich es. Die Schreie, ihre gellenden, verzweifelten Hilferufe. Eine Frau nimmt ihre Tochter in den Arm, schirmt sie mit ihrem Leib gegen das heranrollende Unheil ab. Fluten reflektieren die Strahlen der Sonne. Unmengen von Wasser peitschen durch die Stadt. Männer und Frauen reißen ihre Hände hoch und vor das Gesicht.
Rauschen. Dann plötzlich: Totenstille.
Als ich die Lider wieder öffne, sind die Straßen verschwunden. Die Gassen, die Häuser, die Körper, die künstlich erzeugten Bilder. Alles was bleibt, ist der blütenweiße Raum, ich in seiner Mitte und neben mir eine kleine libellenartige Drohne, mit riesigen Linsen.
»Guten Tag Karma. Wie geht es dir heute?«
»Gut, Reico. Danke, dass du mich fragst«, erwidere ich.
»Dein Herzschlag ist erhöht. Bist du dir sicher, dass du gesund bist?«, fragt Reico und die Drohne umrundet mich einmal.
»Mir geht es gut«, sage ich, aber ich weiß, etwas ist merkwürdig. Ich lüge Reico an. Ihre junge, weibliche Stimme will nichts anderes hören. Es ist ihre Aufgabe dafür zu sorgen, dass ich wohlauf bin.
»Gut also? Findest du es nicht verstörend und Angst einflößend, den Untergang der Stadt in der Sintflut mit anzusehen?«
Ich scanne die Irrwege meines Gehirns nach nützlichen Informationen. Finde eine logische Antwort in einem Buch, das ich in irgendeinem Zyklus einmal gelesen haben muss. Die Geschichte eines heiligen Feuervogels aus Überlieferungen Ägyptens, einem Land, lange vor der Alten Welt. Und dann lege ich mir die Worte zurecht, rufe mir in Erinnerung, dass dies nur eine Prüfung ist.
»Die Sintflut ist eine Metapher. Jeder Niedergang ist nichts weiter als ein Bestandteil der Evolution. Er offenbart den bevorstehenden Geburtsprozess, bei dem das alte Denkmuster abfallen und ein neues hervortreten wird. Es ist das Muster der Weiterentwicklung. Es ist der Aufstieg des Phönix aus der eigenen Asche. Jeder Untergang einer Zivilisation ist somit ein elementarer Teil des Fortschritts und der Anfang von etwas Neuem, etwas Besserem.«
Das letzte Bild, die letzte Sequenz erscheint wieder. Die Mutter und ihre Tochter, kurz bevor sie die Sintflut verschlingt. Standbild. Die Drohne schwirrt durch das Bild.
»Was siehst du?«
»Eine Analogie. Ein Sinnbild für den Weltuntergang.«
»Weißt du, warum die Welt untergegangen ist?«
»Die Kulturen waren so sehr an ihrem Besitz orientiert, dass sie vergessen haben, was sie wirklich glücklich macht. Die Menschen sind dem Geld nachgejagt, haben mehr Zeit mit der Arbeit verbracht, als sich um ihre persönlichen Beziehungen zu kümmern, die für ihr Wohlbefinden eigentlich entscheidend sind. Die Verbindung zum Planeten Erde inbegriffen. Es waren die vergifteten inneren Haltungen der Überlegenheit, Ausbeutung, Angst, Manipulation, Ungerechtigkeit und programmierten Ignoranz«, fasse ich meine Ausführungen zusammen. »Die Menschen haben ihren Heimatplaneten ausgebeutet. Sich in eine Situation hinein manövriert, in der das Fortbestehen von immer knapper werdenden, äußeren Ressourcen bedingt ist. Das war kein schlauer Schachzug.«
»Was wäre denn deiner Ansicht nach klüger gewesen?«
»Wenn sie erkannt hätten, dass ihr Überleben davon abhängt, dass der Planet und alle auf ihm lebenden Arten genausogut versorgt werden müssen, wie