»Was ist los?«, frage ich etwas außer Puste in Richtung der Drohne.
»Das ist langweilig. Immer das Gleiche. Du weichst aus. Immer und immer wieder. Ich erhöhe das Tempo des Trainingsprogramms und was passiert? Du weichst einfach noch schneller und noch besser aus. Fantasielos!«, sagt Reico und die Drohne schwirrt wie eine übergroße Libelle zu den Rotorblättern, umrundet diese und kommt zurück. Sie bewegt sich nervös mal hier hin, mal dorthin.
»Darum geht es doch. Ich soll trainieren. Was soll ich denn sonst tun?«, frage ich und versuche den Bewegungen der Drohne zu folgen.
»Mach das Ding kaputt! Erledige den Roboterarm. Tu mal irgendetwas Aufregendes! Etwas Überraschendes!«, erklingt Reicos Mädchenstimme aus der kleinen Drohne.
»Aber die Roboterklingen haben mir doch nichts getan.«
»Logisch, du hüpfst ja auch immer zur Seite. So, Schluss damit.« Reicos Stimme verändert sich. Sie klingt jetzt nicht mehr wie ein genervtes Mädchen, sondern wie eine taffe Frau. »Aufhebung Bannlevel eins!«, sagt sie auf Sanskrit und die Drohne mit ihren riesigen Augen schwebt dabei direkt vor meinem Gesicht.
Augenblicklich geht ein Ruck durch meinen Körper und ein Übermaß an physischer Energie steht mir schlagartig wieder zur Verfügung. Doch da ist auch etwas anders. Etwas Unbeschreibliches das mich antreibt, ohne dass ich es verhindern kann. Was dann passiert, geht so schnell, dass es mir schwerfällt Einzelheiten wahrzunehmen. Eins steht fest. Ich spiele die Hauptrolle.
Sekunden verstreichen und ich werde mir meiner Umgebung erst wieder bewusst, als ich mich an der Betonwand hängend wiederfinde. Ich kralle mich mit Händen und Füßen fest. Benehme mich wie eine Eidechse. Mein Blick schweift durch den Trainingsraum und erfasst den schief hängenden Roboterarm, die verbogenen Klingen und die zerstörte Libelle, die mit ausgerissenen Flügeln und zertrümmerten Linsen am Boden liegt. Offensichtlich habe ich nicht nur den Gegner besiegt, sondern auch gleich die Drohne miterledigt.
Ich lasse mich von der Wand herunterfallen und lande wie eine Katze auf allen vieren. So plötzlich, wie die Energie in meinen Körper geschossen ist, so schnell fließt sie jetzt auch wieder ab. Mein Körper ist extrem erschöpft und ich kann mich gerade noch so aufrichten. Als die Schleuse zum Trainingsraum aufgeht hebe ich langsam und schwerfällig den Kopf. Ich betrachte meine abgebrochenen Fingernägel und die Schnittwunde an meinem Oberarm. Schriftzeichen leuchten plötzlich an der Schleuse auf. Sanskrit. Eine uralte Sprache, die mich entfesseln kann und deren Schriftzeichen mich auch in die Schranken verweisen können. Ahimsa, steht an der Wand geschrieben. Es bedeutet jetzt in diesem Augenblick, dass der Kampf vorbei ist. Niemand soll mehr verletzt werden. Ich bin erschöpft, befinde mich am Ende eines sieben tägigen Zyklus und benötige eine Verjüngung, um zu überleben.
Verjüngung
Ich bin orientierungslos und trete ein Stück zurück. Stoße unbedacht gegen die Wand, verliere das Gleichgewicht und muss mich irgendwo festhalten, um nicht zu stürzen. Bin erschöpft, müde, überfällig. Es ist Zeit für die Verjüngung.
Ich knie mich hin und sammle all meine verbliebenen Kräfte zusammen. Mein graues Kleid ist schweißnass, ich beginne zu frösteln und wie die Kälte auf meiner Haut, sickert die Erkenntnis zu mir durch: Ohne Verjüngung würde ich eingehen wie eine verwelkende Rose.
In diesem Zyklus habe ich viel an Gewicht verloren. Ob mehr oder weniger, als beim Letzten, kann ich nicht mit Gewissheit sagen, weil ich mich nicht daran erinnern kann. Sieben Tage ist alles, was mir von der Vergangenheit bleibt. Sieben Tage sind die einzigen, an die ich mich erinnern kann. Mehr nicht. Sieben Tage; die Zeitspanne von Zyklus zu Zyklus.
Mein Körper fühlt sich brüchig und verletzlich an. Mein Geist ist zerstreut. Ist eine Ansammlung von losen zusammengehefteten Blättern voller Wissen. Eine Melange aus tausend gelesenen Büchern, intensiven Wahrnehmungen von Bildern, Geräuschen und Gerüchen. Chaotisch angeordnet, als würde mein Wissensschatz jeden Zyklus planlos versprengt, als würde er immer wieder von neuem in meinem Geist ausgesät. Ich bin eine wandelnde Enzyklopädie ohne Inhaltsverzeichnis und mein Gehirn ist ein Lagerhaus unaufgeräumter Gedanken. Ohne die Möglichkeit, den Blick in meine Vergangenheit zu richten, denn über all meinen Erinnerungen an frühere Zyklen liegt ein dunkles Leinentuch des Vergessens.
Langsam stehe ich auf und mache mich durch den Kreuzgang zurück auf den Weg zur Verjüngung. Ich durchschreite den arkadenförmigen, überwölbten Korridor. Der trostlose Anblick der Abtei zeigt sich in gespenstischer Klarheit. Links von mir sehe ich das quadratische Atrium. Ein Dach aus Metall verwehrt die Sicht auf den Himmel. Eventuell war das früher einmal anders. Vielleicht befand sich in ihm einmal ein Garten, ein Brunnen oder ein steinernes Kreuz? Zumindest habe ich diese Dinge über Kreuzgänge und Innenhöfe in kirchlichen Aufzeichnungen erfahren.
Zur Rechten sind sämtliche wichtigen Räume der Abtei angeschlossen. Die Kapelle, der Trainingsraum, die Bibliothek, der Hologrammwürfel und die Schlafkammer der einzigen mir bekannten Bewohnerin des Westflügels. Es handelt sich um meine eigene. Was sich im Osten befindet, kann ich nicht mit sicherer Kenntnis sagen. Ich war noch nie dort. Der Zutritt ist mir untersagt.
Der Lichthof ist meine persönliche Hauptverkehrsader in der Abtei. Alles unterliegt hier strengen Regeln. Ich darf nur zu gewissen Zeiten die Bibliothek betreten, um ein neues Buch zu erwählen. Und ich werde in den Trainingsraum beordert, wenn es Zeit zum Kämpfen ist.
Ich habe keine Ahnung, welcher Tag, welches Jahr, welches Jahrhundert heute ist. Niemand kann oder will mir diese Fragen beantworten. Jeder Zyklus in der Abtei fühlt sich einmalig an. Alle davor sind verloren und ich kann sie in meinem Kopf nicht erneut aufleben lassen.
Erinnerungen? Keine Spur davon!
Das liegt an meiner Gefühlswelt, vermute ich. Denn das Gedächtnis und die Gefühle sind eng miteinander verwoben. Dieses Wissen habe ich auch aus Büchern wie alles andere über das ich Bescheid weiß. Im Gegensatz zu meinen Zyklen kann ich mich an jeden gelesenen Satz erinnern. Mein Horizont besteht im Grunde nur aus Silben, Wörtern und Sätzen, die ich aus dem Papier heraus gesogen habe.
Der Luftzug der Klimaanlage streicht über meine feuchte Haut und lässt mich frösteln. Während ich von einem bloßen Fuß auf den nächsten trete, spiele ich mit der Idee, mein Kleid auszuziehen. Es gibt hier sowieso niemanden, der mich in Unterwäsche sehen könnte. Keinen außer Reico.
Ich komme an dem Eingang zur Bibliothek vorbei. Die Tür liegt in der Dunkelheit. Ist durch die Schatten verborgen. Der Zugang ist verwehrt. Ich habe einmal gelesen, dass man in der Stille der eigenen Gedanken die Dinge des Lebens verstehen kann. Ich würde das gerne ergründen, da aber mein Gehirn niemals zum Stillstand kommt, scheint mir dies unmöglich zu sein.
Ich bleibe stehen. Denke nach.
Reflektiere den Inhalt von Büchern.
Von allen Welten, die der Mensch je erschaffen hat, ist die der Literatur wohl die Gewaltigste. Ich finde dieses Zitat interessant. Hätte der Erfinder es auch zu Papier gebracht, wenn er gewusst hätte, dass die Menschen die Welt zerstört haben? Vermutlich liegt aber doch viel Wahrheit darin. Denn die Bücher gibt es immer noch. Und die Menschen? Ich weiß es nicht. Vielleicht gibt es sie alle nicht mehr.
Manchmal lese ich ein und dasselbe Werk etliche Male hintereinander, bis ich seine Handlung hundertprozentig verstanden habe, darüber sprechen und argumentieren kann. Alles abgespeichert habe, um daraus rezitieren zu können. Dummerweise weiß ich nur nicht, ob ich es vor zehn Tagen, Jahren oder Jahrzehnten gelesen habe.
Lesen? Schmökern? Verschlingen?
Ich eigne mir das Wissen nicht nur an, um die Tests zu bestehen, die mir Reico auferlegt. Es ist