Die letzte Seele. Lars Burkart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lars Burkart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753185972
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hoffte inständig, sein Heiterkeitsausbruch würde eine Weile andauern. Doch schon während er noch dafür betete, verabschiedete sich der kurze Moment schon mit Pauken und Trompeten und hinterließ nur wieder diese düstere, traurige Leere. Langsam rannen Tränen über seine Wangen.

      Wie lange saß er nun schon so da? Die Beine auf dem Tisch, tief im Schreibtischsessel versunken und die Augen starr zur Zimmerdecke gerichtet? Zehn Minuten? Eine Stunde? Oder vielleicht zwei? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Aber es musste schon ziemlich lange sein, denn als er Anstalten machte sich aufzurichten, kribbelten seine Beine, als spaziere er mit kurzen Hosen durch ein Brennnesselfeld. Er stöhnte. Seine Tränen waren inzwischen getrocknet, aber ihm war bewusst, dass sie noch lange nicht versiegt waren. Er blickte sich langsam um und sah noch etwas anderes. Falls er zu diesem Zeitpunkt noch Zweifel gehegt hatte, lange weggetreten gewesen zu sein, waren diese nun widerlegt. Denn es war schon fast dunkel. Es mussten Stunden gewesena sein.

      Paul kämmte mit der Rechten sein dünnes Haar, und jetzt machten sich die ersten Wehen eines herannahenden Kopfschmerzes bemerkbar. Und da er auch verdammt durstig war, nahm er schnell noch einen Schluck aus der Pulle, der nun aber gar nicht mehr so gut schmeckte. Der Whiskey hatte jetzt Zimmertemperatur, und da kann man mit alkoholischen Getränken viel machen, sich zum Beispiel die Füße damit waschen, aber auf keinen Fall sollte man sie noch trinken. Kein Mensch säuft so eine Plärre, wenn sie warm ist wie Ochsenpisse – es sei denn, man ist hemmungsloser Alkoholiker. Obwohl Paul genau das durch den Kopf ging, setzte er die Flasche erst ab, als sie leer war. Scheiß auf den schlechten Geschmack! Scheiß auf alles! Hauptsache, es knallt ordentlich!

      Während er so dasaß, den Alkohol wirken ließ und versuchte, seine morschen Knochen wieder zum Leben zu erwecken, sah er, dass sein Notebook eigenartigerweise genau an der Stelle stand, wo es gestanden hatte, bevor er es mit einem saftigen Tritt zu Boden geschleudert hatte. Später meinte er, sich vage daran zu erinnern, dass er sich gefragt hatte, wie das verdammte Drecksding bitteschön wieder auf den Tisch gekommen war.

      Seine Arme und Beine kribbelten, als liefen Milliarden Ameisen darüber hinweg. Nach und nach verschwand dieses unangenehme Gefühl aber wieder, und dadurch bekam der andere Schmerz wieder Raum, um ihn zu peinigen: der Schmerz über den Verlust seiner Frau. Und im Gegensatz dazu war ihm das Kribbeln wesentlich lieber.

      Die Uhr an seinem Handgelenk verriet ihm, dass es inzwischen zehn vor zwölf war. An einem normalen Tag wäre er jetzt schon seit einer Stunde im Bett gewesen. An einem normalen Tag hätte er fünf bis zehn Seiten geschrieben und wäre dann in den Tennisclub gefahren. Oder er hätte sonst irgendetwas gemacht. Aber heute war kein normaler Tag, nicht mal ein halbwegs normaler. Er hatte weder gearbeitet noch die Zeit sonst sinnvoll genutzt. Und da heute ohnehin schon alles durcheinander war, verzichtete Paul darauf, pünktlich zu Bett zu gehen und entschied sich vielmehr, in der Kneipe noch einen trinken zu gehen.

      Das Hin- und Zurückkommen würde kein Problem sein. Er würde einfach über das Feld gehen und bis zur Stadt laufen, eine Sache von dreißig Minuten. Ein einfacher Weg mit dem Vorteil, dass er nicht Auto fahren musste. Denn dazu war er nicht mehr in der Lage.

      Als Paul am nächsten Tag erwachte (es war bereits weit nach Mittag), fand er sich mit dem Kopf am Fußende seines Bettes wieder. Er fühlte sich hundeelend. Soweit er sich daran erinnern konnte, hatte er in der Kneipe ordentlich einen über den Durst getrunken. Er hatte sich das Spezialgetränk des Hauses mixen lassen. Er konnte zwar kaum die Hälfte der Zutaten aussprechen, aber dennoch hatte er sich einen halben Liter davon kommen lassen und war mit dem Glas in der Hand unter den neugierigen Blicken des Barkeepers in eine dunkle Ecke verschwunden.

      Das Glas war voll bis zum Rand und verströmte einen eigenartigen Geruch, scharf und brennend. Einer von diesen Gerüchen, bei denen einem schon die Augen tränen, wenn man nur nahe an sie herankommt. Paul wusste nur zu gut, dass es hochprozentiges Zeug war, das einem durchschnittlich begabten Trinker schnell das Genick brechen konnte. Aber er war noch nicht einmal ein durchschnittlicher Trinker. Wenn er einmal im Monat einen doppelten Whiskey oder eine Flasche Bier trank, war das schon viel.

      Gedankenverloren blickte er in das Glas und beobachtete sein Gesicht, das sich in der dunklen Flüssigkeit spiegelte. Er konnte alles erkennen: die Fältchen um die Augen, die kleine Narbe in der rechten Braue, die er sich zugezogen hatte, als er als Kind beim Spielen gegen eine Wäscheleine gelaufen war, die Nase, die seit einer Klopperei während der Schulzeit (Gott, ist das lange her. Ich weiß gar nicht mehr, worum was es da ging … bestimmt um ein Mädchen. Es geht ja immer um Mädchen) ein paar Beulen und Unebenheiten trug. Leider konnte er auch seine Augen sehen, die vom Weinen rot und verquollen waren.

      Er griff in die Hemdtasche, wo er die Zigaretten aufbewahrte. Er öffnete sie, fingerte ungeschickt eine heraus, steckte sie in den Mund und zündete sie an.

      Der Rauch drang in seine Lunge, und um ein Haar hätte er den Tisch vollgekotzt. Während er noch versuchte, seinen Mageninhalt zu behalten, überlegte er, wie lange er schon keine Kippen mehr angefasst hatte. Mussten mindestens zehn Jahre sein. Aber hundertprozentig sicher war er nicht, auf jeden Fall eine verdammt lange Zeit. Es war ihm damals schwergefallen, es sich abzugewöhnen und er hatte mehr als einen Anlauf gebraucht, aber schließlich war es ihm gelungen. Zumindest bis heute. Gratulation.

      Jetzt war ihm nicht nur speiübel, sondern auch schwindelig, und alles drehte sich. Dennoch zog er wieder an der Kippe, hustete jämmerlich und hasste Jeannine für alles, was sie ihm angetan hatte. Er hasste sie, weil sie dafür verantwortlich war, dass er jetzt hier saß, eine Kippe in der einen und ein mörderisches Gesöff in der anderen Hand.

      Der Alkohol kroch ihm in die Nase.

      Der vernünftig denkende Mann in ihm fragte gerade, ob es das wert war. Ob er unbedingt diesen Fusel saufen musste und ob er es für klug hielt, seine Lungen wie einen verdammten Scheiß-Highway zu teeren, bloß weil dieses Miststück ihn verlassen hatte.

      Eine berechtigte Kritik, dachte er und trank wieder einen Schluck.

      In dem Moment, als das Getränk seine Zunge berührte, hätte er am liebsten gebrüllt wie ein Baby. Das Zeug brannte fürchterlich; sogar seine Augen begannen wieder zu tränen.

      Paul setzte das Glas ab und war einen Moment davon überzeugt, wie ein Drache im Märchen Feuer spucken zu müssen. Das Zeug haute rein, so viel stand fest. Das Erstaunliche aber war, dass das Brennen in der Mundhöhle, in der Speiseröhre und im Magen nicht nur nachgelassen hatte, sondern verschwunden war. Er trank noch einen Schluck, diesmal einen größeren, und spürte, wie seine Glieder augenblicklich leicht wurden wie eine Feder. Sein Arm schien auf über zwei Meter angewachsen zu sein und überhaupt nichts mehr zu wiegen. Amüsiert beobachtete er, wie der riesenhafte Arm mit der ebenfalls riesenhaften Hand versuchte, eine Zigarette aus der Schachtel zu holen. Die Finger schienen komplett knochenlos zu sein; sie wackelten wie Wimpel im Wind. Der Anblick dieser Gummifinger und der monströsen Arme amüsierten Paul, und er kicherte wie ein Verrückter vor sich hin.

      Schließlich gelang es ihm doch noch, eine Kippe aus der Gefangenschaft zu befreien und steckte sie in den Mund. Sie hüpfte zwischen den Lippen auf und ab, denn inzwischen gackerte er wie ein Huhn. Ihm war es vollkommen egal, dass sich alle Augen zu ihm drehten.

      Paul wusste, dass es klüger gewesen wäre, jetzt aufzustehen und das Lokal aufrecht zu verlassen. Noch konnte er es. Aber er tat es nicht. Er war nicht hierhergekommen, um den Schwanz einzuziehen. Er war hergekommen, weil er sich betrinken wollte. Er wollte so betrunken sein, wie er es schon lange nicht mehr gewesen war. Und wenn er es war, wollte er weitermachen. Echt vom feinsten, dieser Plan.

      Der Weg dorthin war nicht allzu steinig. Genaugenommen ging es, bildlich gesprochen, fast nur bergab. Und so erfüllte sich sein Wunsch schneller, als es ihm lieb gewesen wäre. Anfangs spürte er nur diesen Schwindel, später dann wurden seine Glieder schwer wie Blei, und eine Sekunde später so leicht wie eine Feder. Immer abwechselnd. Kein unangenehmes Gefühl.

      Wenig später (er hatte noch nicht mal fünf Zigaretten geraucht und sein Glas war noch halbvoll) musste er auf die Toilette. Über dem Pissoir war ein Fenster, das offen stand, und von dort strömte frische Luft herein. Sie fühlte sich gut an auf der heißen Haut. Sie kühlte, und außerdem