Die letzte Seele. Lars Burkart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lars Burkart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753185972
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wenn die Tränen ungehindert flossen. Manchmal gab es Tränen, die geweint werden mussten.

      Er lief zur Hausbar, mixte eine Bloody Mary und überreichte sie Paul. Das wird ihn beruhigen, dachte er. Zu seiner Verwunderung schnupperte Paul nur daran, verzog angewidert das Gesicht und schüttete es über die Schulter.

      „He, was soll das denn? Bist du verrückt? Das Zeug wird dir guttun!“

      „Das halt ich für ‘n Gerücht. Das macht alles nur noch schlimmer, glaub mir.“

      „Na schön, wie du meinst. Du musst es ja wissen.“ Mit diesen Worten ging er zurück zur Bar und mixte sich selbst einen Drink. Er brauchte dringend etwas Starkes, Hochprozentiges. Jerome nippte vorsichtig an seinem Glas und ließ sich in sicherem Abstand auf einem Sessel nieder.

      Paul saß auf dem Boden, hatte die Knie an die Brust gedrückt und starrte ins Leere. Er sah aus wie ein Häufchen Elend.

      „Eine rauchen?“ Jerome sprach langsam und deutlich und rechnete nicht mit einer Antwort. Umso überraschter war er, dass Paul reagierte.

      „Was?“

      „Wollte nur wissen, ob du eine rauchen willst. Meine Lunge pfeift wie ein Schwarm Spatzen vom Dach. Und was tut man da? Man smokt eine.“

      Paul begriff noch immer nicht. Er strahlt die Intelligenz eines Hammers aus, wie er so dahockt, dachte Jerome und kämpfte gegen ein Grinsen an.

      Allmählich dämmerte es Paul, und ein dümmliches Grinsen wanderte über sein Gesicht. „Ob ich eine Zigarette will, hast du gefragt, stimmt’s?“ Er schien von dieser Erkenntnis hellauf begeistert zu sein.

      Oh Mann, Paul war heute echt nicht der Schnellste! Jerome ließ sich nichts anmerken und warf ihm wortlos die Schachtel mitsamt Feuerzeug hin.

      Ein paar Minuten lang saßen sie schweigend da, zogen an den Kippen und sahen einander unschlüssig an. Keiner hatte eine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Und noch immer fiel der Regen in Fäden vom Himmel, rann an den Scheiben, perlte an den Blättern ab und tropfte zu Boden. Er schien sogar noch stärker geworden zu sein. Allerdings war Paul die Lust vergangen, in ihm herumzutollen. Abrupt stand er auf, sah Jerome in die Augen und fragte noch einmal, diesmal mit energischer Stimme: „In welchem Krankenhaus?“

      „Ich hab dir schon gesagt, dass ich es dir nicht sagen darf.“

      Paul gab sich damit keineswegs zufrieden. Er schnippte die Kippe auf den Teppich, beobachtete amüsiert, wie sie ein Loch hineinbrannte und trat sie widerwillig tot. Am liebsten wäre ihm gewesen, wenn der verdammte Scheißteppich mitsamt der ganzen Bude in Flammen aufgegangen wäre. Festen Schrittes näherte er sich Jerome.

      „Hör zu, du Scheißkerl …“

      „Aber, aber. Ich muss doch sehr bitten!“ Jerome war entrüstet über den verbalen Ausbruch, wagte aber nicht, energischer zu protestieren. Pauls leerer Blick ängstigte ihn noch mehr als zuvor, und er hielt es für ratsam, nicht die große Klappe zu haben. Er merkte, dass er mehr und mehr in seinem Sessel versank. Mit jedem Schritt, den Paul näherkam, schrumpfte er ein paar Zentimeter. Er spürte es, aber er war außerstande, etwas dagegen zu tun. Auch Paul sah, wie er zu Schlumpfgröße mutierte. Der Anblick befriedigte ihn. Schließlich war er es gewesen, der den guten Tag in die Tonne getreten hatte. Er musste jemanden gehörig ans Bein pissen, und da Jerome nun einmal da war, musste er eben herhalten.

      „Hör zu, du Pisser!“

      Diesmal wagte Jerome es nicht, aufzumucken.

      „Was glaubst du eigentlich, was das hier werden soll, hä? Kommst einfach hierher und versaust mir einen wundervollen Tag! Erzählst mir, dass meine Frau einen Unfall hatte, aber nicht, in welcher Scheißklinik sie liegt. Erzählst mir, dass unsere gemeinsamen Kinder (und die Betonung liegt auf gemeinsam!) auf dem Weg ins Känguruland sind. Hast du auch nur einen blassen Schimmer, wie lange man dahinfliegt? Mehr als zwanzig Stunden! Glaub mir, das ist purer Stress! Warum mutet sie das den beiden zu? Gottverdammt, werde ich denn überall übergangen? Ich darf meine eigenen Kinder nicht sehen, aber das Flugticket zahlt sie von meinem sauerverdienten Geld! Aber wenn dieses Miststück glaubt, ich lass mich hier so einfach abservieren, hat sie sich ins Fleisch geschnitten! Ohne mich! Da mache ich nicht mit! Sag mir jetzt, wo sie ist! Und verschon mich mit Ausreden! Raus mit der Sprache! Wo liegt sie?“

      Jerome, der mittlerweile zur Größe eines Reiskornes geschrumpft war, wurde noch etwas kleiner. Paul starrte ihn so verbissen an, dass er es bereute, hergekommen zu sein. Welcher Esel hat mich bloß geritten, dachte er wieder und wieder, während er fürchtete, in den Ritzen des Sessels zu versinken.

      „Ich warte.“ Ungeduldig klopfte Paul mit den Füßen auf dem Boden herum.

      „Sie ist …“

      „Ja? Wo denn nun? Ich höre nichts!“

      In diesem Moment warf Jerome alle Versprechungen über Bord und verriet es Paul. Er dürfte es um nichts auf der Welt verraten, hatte sie ihm eingebläut. Aber das war leichter gesagt als getan, wenn man jemand gegenüber saß, der nicht nur nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, sondern überhaupt kein Geschirr mehr besaß.

      Genau neunzehn Minuten und dreiundfünfzig Sekunden später stand Paul am Eingang des St. Georgien Hospitals. Unentschlossen zupfte er an seinem T-Shirt und ging hinein. Jerome hatte ihm verraten, wo sie lag und war dann wie ein angestochenes Schwein davongesaust – nicht, ohne ihm vorher einen Besuch bei einem Psychiater zu empfehlen. Und kaum dass Jerome sich aus dem Staub gemacht hatte, war Paul in den Porsche gesprungen und wie ein Teufel durch die Stadt gefahren. Das St. Georgien Hospital lag ein wenig außerhalb inmitten eines großen Waldstückes.

      Paul fuhr die ganze Zeit mit Vollgas, das Gaspedal war bis zum Boden durchgetreten, und sein Schutzengel musste Überstunden machen, ob er nun wollte oder nicht. Als er durch den Regen preschte, überlegte er kurz, warum sie Jerome zu ihm geschickt hatte. Wollte sie ihn eins auswischen? Hatte sie Spaß daran, ihn zu quälen? Scheinbar ja. Er sah keinen anderen Grund.

      Jetzt, da er sich im Eingangsbereich des Krankenhauses befand, hielt er das Ganze gar nicht mehr für eine so gute Idee. Paul hatte Bedenken, ob der Weg, den er eingeschlagen hatte, richtig war. Was erwartete ihn? Wie würde Jeannette reagieren? Ob sie ihn überhaupt beachtete? Paul kannte sie gut genug. Er wusste, wozu sie fähig war. Er hatte das in den letzten Tagen oft genug erfahren müssen.

      All das ging ihm durch den Kopf, als er langsam weiterging. Es konnte seine Schritte bremsen, ihn aber nicht aufhalten. Was ihn aufhalten konnte, war die Angst vor seiner eigenen Reaktion. Bei dem Ganzen hatte er sich kein einziges Mal Gedanken um sich selbst gemacht. Wie werde ich reagieren? Kann ich mich beherrschen oder raste ich einfach aus und falle wie eine wildgewordene Hyäne über sie her? Oder bin ich imstande, mich ruhig und gesittet zu verhalten? Da das alles noch im Dunkeln lag, entschloss er sich, weiterzugehen und es auf einen Versuch ankommen zu lassen.

      Die Schritte führten an der Cafeteria vorbei, und hier lag ein Duft von Gebäck, Kuchen und Kaffee in der Luft. Aber da war auch noch etwas anderes. Paul stockte einen Augenblick. Vor Jahren war sein Vater in genau diesem Krankenhaus an Krebs zugrunde gegangen, und dieser Geruch brachte ihm das wieder so in Erinnerung, dass er meinte, es sei gestern gewesen. Warum meinte man in einem Krankenhaus immer die Gegenwart des Todes zu spüren? Nirgends war er so präsent wie dort. Paul glaubte, dass dies den Besuchern noch deutlicher gewahr wurde als den Patienten. Vielleicht vernebelte der Tod einem die Sinne, sodass man, wenn man einige Zeit unter seinem Einfluss stand, gar nichts mehr davon mitbekam?

      Paul riss sich aus seinen Gedanken und sah sich verstohlen um. Hatte er etwa wie ein Idiot dagestanden, mit weitgeöffnetem Mund und Augen so groß wie Suppenteller? Schließlich ging er weiter.

      Pling, machte es, als sich die Fahrstuhltür hinter ihm schloss. Jetzt stand er im vierten Obergeschoss. Es sah hier genauso aus wie im Erdgeschoss, nur die Cafeteria fehlte. Langsamen Schrittes ging er weiter. Der Flur lag vor ihm im Halbdunkel. Vereinzelt stand eine Tür offen. Aus dem Schwesternzimmer dudelten leise Oldies, und ab und an stöhnte jemand. Es klang wie eine stumpfe Säge auf Holz. Seine Nackenhaare richteten sich nach oben;