Er musste von hier weg, egal wohin. Irgendwohin, nur weg von diesem heranrasenden Punkt, der ihn zermalmen würde, wenn er ihn erreicht hatte. Das Dumme war nur, dass er genau das nicht konnte. Paul blieb, wo er war. Er hatte keine Möglichkeit zu entkommen. Wie auch? Er wusste ja noch nicht einmal, wo er war. Gab es hier überhaupt einen Ausweg, aus diesem gottverdammten Schwarzen Loch?
Paul erfasste Panik. Der Punkt schoss immer noch direkt auf ihn zu, wurde größer und größer. Anfangs hatte er die Größe einer Erbse gehabt, und schon wenig später die eines Baseballs. Er überschlug es kurz im Kopf: Logischerweise wird ein Gegenstand, je näher er kommt, größer. Und da ergibt sich die Frage: Wie groß wird er wohl sein, wenn er mich erreicht hat? Nach kurzem Hin und Her vermutete er, dass er nicht nur zermalmt, sondern zuerst pasteurisiert, in Atome zerlegt und schließlich zu Mus verarbeitet würde. Eine wahrlich erquickende Vorstellung.
Der Punkt war jetzt zu einem Gebilde von schätzungsweise zwei Metern Umfang herangewachsen. Oh Gott, oh Gott, wohin soll das noch führen? Vielleicht war es besser, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen.
Jetzt sah Paul noch etwas anderes und riss den Mund auf vor Überraschung: Im Inneren des Kreises war noch so etwas wie ein Kreis. Es sah aus wie ein dunkler matschiger Fleck. Paul spähte angestrengt. Er wollte es nicht, aber was hätte er sonst tun sollen? Wegsehen? Früher oder später würde er es ohnehin sehen.
Das Ding blieb ein dunkler matschiger Fleck. Entweder war die Entfernung noch zu groß oder der Fleck war genauso, wie er sich darstellte: dunkel und matschig. Paul wusste nicht, welche der beiden Möglichkeiten ihm lieber war. Er starrte so angestrengt, dass er schon fürchtete, die Augen würden ihm aus dem Kopf fallen. Vielleicht lag es ja daran, überlegte er (und das beruhigte ihn etwas), weil es so schnell näher kam. Vielleicht konnte er genau deshalb keine klaren Konturen erkennen.
Auf einmal richteten seine Nackenhaare sich auf. Der Grund dafür war so banal wie erschreckend: Alle Hoffnung, dass dies hier nur eine Illusion war oder ein schlechter Traum, verflog. Denn jetzt fühlte er einen Luftzug, sanft und noch schwach, leise. Aber vorhanden. Es war nicht zu leugnen: Der Wind wehte genau aus der Richtung, aus der das seltsame Gebilde auf ihn zugeschossen kam. Sein Verstand schloss, dass jener Luftzug die Luft war, die das fremde Gebilde vor sich hertrieb. Und noch etwas ging ihm durch den Kopf. Er hatte es an dem Geräusch erkannt, das der Wind erzeugte. Es klang hohl und dröhnend und … fast so, als befinde er sich in einem gigantischen Rohr. Das würde zumindest erklären, warum er so viel Wind abbekam.
Der Kreis war inzwischen noch größer geworden, und es schien, als hätte er kleine Ecken bekommen. Die Luft rauschte immer schneller heran und wurde eisig.
Paul schloss die Augen. Er hatte genug gesehen. Der Kreis, der gar kein Kreis mehr war, war verschwunden. Nur der Luftzug blieb. Er öffnete wieder die Augen und der Kreis war immer noch da, jetzt um ein einiges größer. Und auch die Ecken waren deutlicher zu erkennen. Allmählich nahm er die Form eines Tausendecks an, falls es das überhaupt gab. Sogar inmitten der Form wanden sich die Ecken. Und noch immer wurde das Gebilde größer und größer, und der Wind rauschte lauter und lauter.
Wenn nicht bald etwas passiert, dachte Paul, drehe ich durch. Scheißegal, ob es gut für mich ist oder schlecht, ich will, dass es endlich vorbei ist!
Er schloss die Augen ein zweites Mal. Er wollte sie erst wieder öffnen, wenn das hier vorbei war. Die Tatsache, selbst bestimmen zu können, ab wann man nichts mehr sah, war beruhigend. Sie war so tröstlich, dass er erleichtert ausatmete.
Wie von allein öffneten seine Augen sich wieder. Paul konnte es weder kontrollieren noch verhindern. Jetzt endlich war zu erkennen, was da auf ihn zugerast kam. Das Bild, das er sah, war so grotesk, dass er nicht anders konnte als laut zu lachen. Das Lachen dröhnte bis unter seine Schädeldecke, und das Echo drohte sein Gehirn zu zermatschen. Es war einfach zu absurd.
Das, was da mit ungeheuerlicher Geschwindigkeit auf ihn zugerast gekommen war, war nichts anderes als ein Zimmer. Ein stinknormales Zimmer. Bei dieser Vorstellung prustete er noch lauter.
Es war … ja, es war haargenau das Zimmer, in dem seine Odyssee in die Vergangenheit begonnen hatte. Und es sah noch genauso aus, wie er es verlassen hatte. Mit etwas Mühe konnte er sogar die zersplitterte Kaffeetasse auf dem Boden erkennen.
Das Toben des Windes schwoll an, wurde ein ohrenbetäubendes Kreischen und brach mit einem Mal ab. Ein Knall, als durchbreche ein Jagdflugzeug die Schallmauer. Und dann war alles ruhig. Viel zu ruhig.
Paul spürte, wie er mit hartem Aufschlag in der Wirklichkeit aufsetzte. Sein Trip in die Vergangenheit war zu Ende. Und das tat ihm fast leid. Er hörte sich selbst murmeln: „Junge, Junge, hab noch nie so einen realen Traum gehabt! Echt beängstigend!“
Er sah sich um, als hätte er das Zimmer, in dem er stand, noch nie zuvor gesehen. Am meisten verblüffte ihn, dass er mit dem Hinterteil auf den kalten Fliesen saß. Um sich nicht zu verkühlen, stand er auf.
„Mann, das war vielleicht ein Höllentrip! Ich brauch schleunigst was zu trinken.“ Er watschelte zum Kühlschrank, nahm sich ein Bier, setzte sich auf den Küchentisch und trank in aller Ruhe.
Dabei versuchte er, das soeben Erlebte Revue passieren zu lassen. Es war nur ein Traum gewesen, so viel stand fest. Es konnte gar nichts anderes gewesen sein. Ich muss eingeschlafen sein, dachte er. Und …. Mann oh Mann. Mir kreiselt es noch immer im Kopf rum …
Er nippte noch einmal am Bier, rülpste herzhaft und erhob sich vom Küchentisch. Seine Beine waren weich und schwammig; außerdem hatte er sich den Ellenbogen aufgeschürft. Der Teufel sollte ihn holen, wenn er wüsste, wann das geschehen sein sollte! Zitternd und wacklig wie ein neugeborenes Fohlen stand er da, und seine Beine drohten unter seinem Gewicht zu brechen wie Streichhölzer. Obwohl er einem Strohhalm im tosenden Orkan glich, überlegte er, sich noch ein Bier zu holen. In der Sekunde, in der er sich dazu durchgerungen hatte, wurde es plötzlich wieder schwarz um ihn, und das Letzte, was er sah, war ein kleiner, dunkler Punkt, der sich rasend schnell in der Dunkelheit entfernte …
Paul war wieder zurück. Er war wieder in seiner Vergangenheit. Aber etwas war anders. Nur was?
Und da bemerkte er es.
Zuvor hatte er das Geschehen um sich herum beobachtet wie einen Film. Er hatte den Freunden, Jeannine und natürlich auch sich selbst, bei ihren Handlungen zugesehen, mehr nicht. Jetzt war es anders. Jetzt sah er das Geschehen durch die Augen des jüngeren Paul, als säße er in dessen Kopf und blicke durch seine Augen. Nur eingreifen konnte er nach wie vor nicht – ein Umstand, der vielleicht sogar gut war. Was ihn noch mehr überraschte, war, wie Jeannine aussah. Sie hatte kein einziges Fältchen, kein graues Haar, nicht die kleinste Alterserscheinung. Vorher war ihm das nie aufgefallen. Er hatte sie ja jeden Tag gesehen, da entgeht einem die eine oder andere Veränderung. Aber da er jetzt ihr früheres jugendliches Gesicht vor Augen sah, bemerkte er jede Kleinigkeit, die sich in den Jahren verändert hatte.
Kunststück, dachte Paul, dass sie so frisch und saftig aussieht – in dem Alter kann man sich ja nicht mal vorstellen, älter zu werden! Trotzdem wird man es, und eines Tages ist von der jugendlichen Frische nichts mehr da und man wird einem runzligen Apfel immer ähnlicher.
„Darf ich dir eine Zigarette anbieten?“
„Klar darfst du.“
Einen Moment herrschte Schweigen.
„Stell dir vor“, begann Jeannine, „meine alten Leutchen haben verlauten lassen, Fluppen sind schädlich. Und mir soll bitteschön ja nicht einfallen, mit dem Rauchen anzufangen. Die beiden haben es gerade nötig! Qualmen selbst wie zwei Schlote! Nee, nee, nicht mit mir, sag ich dir!“
Paul sah sie ratlos an. „Wer oder was sind denn deine alten Leutchen?“
„Sag mal, wo kommst du denn her? Tiefstes Mittelalter oder einsame Insel? Ich schätze mal, es war die Insel, richtig? War’s ein lauschiges Plätzchen? Wie dem auch sei, hier und zum Mitmeißeln: Damit