Großes Gewicht legt Pestalozzi sodann auf die Festlegung der „Elementarpunkte“ der menschlichen (Verstandes-)Bildung; als solche gelten ihm genau die drei: die Zahl, die Form (i. e. S.: die Raumform) und das Wort der Sprache. Irrtümlich hat man diese drei als gleichwertig nebeneinanderstehend aufgefasst und sich dann über die Zusammenstellung so ungleichartiger Dinge nicht ohne Grund gewundert. Aber die ursprüngliche Gestaltung des Gegenstandes in der Erkenntnis soll offenbar die durch Zahl und Form allein sein; erst eine wiederholende Nachschöpfung (und dann auch Weiterfühlung) dieser ersten Schöpfung, von dieser durchaus abhängig, ist die Leistung der Sprache, wobei in erster Linie an die Begriffsfassung, ja geradezu an die kategoriale Bestimmung des Gegenstandes gedacht ist. In der näheren Ausführung freilich legt Pestalozzi – zum Teil in auffallendem Maße sich selbst missverstehend – auf das Lautliche bei der Sprache und dann auf die Nomenklatur ein übertriebenes Gewicht, überhaupt steht die Bearbeitung der Sprachlehre in dieser Hauptschrift und auch in den weiteren, mit Ausdauer durch sein ganzes ferneres Leben fortgesetzten Versuchen entschieden zurück gegen die des mathematischen Unterrichts, die fast überall in die Tiefe der Sache führt und auch in der Einzelausführung sich fast in jedem Punkte probehaltig erweist. In Pestalozzis „Abc der Anschauung“ liegt der tiefe und wahre Gedanke, dass alle „möglichen“ Form- und Zahlverhältnisse sich aus wenigen einfachsten Grundelementen in zwingender Folgerichtigkeit aufbauen müssen, und zwar in engster Wechselbeziehung die Grundverhältnisse der Form zugleich mit denen der Zahl und umgekehrt; so zwar, dass die Zahl die Denkfunktion selbst in ihrer Reinheit, die Form deren zugleich anschaulich konkrete Darstellung vertritt, welches beides, ganz wie Kant es verstanden hatte, nur in enger wechselseitiger Beziehung zueinander zu seiner gesetzlichen Gestaltung und Entfaltung gebracht werden könne. So ist die Idee der Elementarbildung, wenigstens was die Ausbildung des Verstandes betrifft, bis zu einem gewissen Punkte richtig durchgeführt. Die entsprechende Durchführung in Hinsicht der technischen und namentlich der sittlichen Bildung wird als Forderung aufgestellt, und wenigstens die letztere in den Grundlinien auch angedeutet. In der Praxis der Pestalozzischen Anstalt freilich trat gegen die Pflege der Mathematik und des mathematischen Zeichnens, die schon früh eine hohe Vollendung erreichte, einstweilen fast alles andere in den Hintergrund, so dass sogar der falsche Schein aufkommen konnte, als werde das, was doch stets für Pestalozzi die große Hauptsache gewesen war, die sittliche Bildung und zwar auf der Grundlage der Arbeitsbildung, jetzt von ihm vernachlässigt und hintangesetzt. Doch müsste man nicht nur den ganzen früheren und späteren Pestalozzi, sondern auch die letzten Abschnitte der Hauptschrift selbst völlig übersehen oder nicht verstanden haben, um diesen Vorwurf irgend als begründet gelten lassen zu können.
Ganz den Grundsätzen der Hauptschrift entsprechen die in dieser bereits angekündigten, 1803 und 1804 erschienenen „Elementarbücher“: das „Buch der Mütter“ und die beiden „Anschauungslehren“ der Maß- und Zahlverhältnisse. An ihrer Ausarbeitung waren die Mitarbeiter Pestalozzis stark beteiligt, doch rühren die Einleitungen von Pestalozzi selbst her und ist auch das übrige wenigstens seinen damaligen Überzeugungen sicher entsprechend. Nicht von ihm, sondern von Krüsi stammt der auffällig verfehlte, gleichwohl von ihm selbst aufgenommene Gedanke, die früheste Bildung der kindlichen Begriffe an das Studium des eigenen Körpers des Kindes zu knüpfen. Übrigens ist der Gehalt des „Buches der Mütter“ in diesem Fehlgedanken keineswegs erschöpft; namentlich sollten die (von Pestalozzi selbst herrührenden) vortrefflichen Ausführungen über die frühe Bildung der Sinne nicht übersehen werden.
Seit dem Erscheinen des bei allen sachlichen und formalen Mängeln hochbedeutenden, auch durch die Wärme und Persönlichkeit der Darstellung fesselnden Buches („Wie Gertrud usw.“, von den Zeitgenossen kurz „Gertrud“ zitiert) wuchs der Ruf der Pestalozzischen Anstalt zusehends. Auf die allgemeine Würdigung Pestalozzis übten wohl den stärksten Einfluss der Bericht des Dekans Ith von Bern (1802, Neudruck 1902) und Anton Gruners „Briefe aus Burgdorf“ (1804). Beide Männer, bis dahin eifrige Anhänger der herrschenden rationalistischen Pädagogik, waren höchst misstrauisch nach Burgdorf gekommen, beide gingen als überzeugte Anhänger Pestalozzis und eifrige Fürsprecher seiner Sache.
Gottlieb Anton Gruner – 1778 – 1844
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Gruner besonders hat die Formeln geprägt, in denen man den Unterschied der Lehrart Pestalozzis von der gemeinhin herrschenden auszudrücken liebte: Er strebe intensive Bildung an, nicht bloß extensive, formale statt materialer; er gehe aus auf die Entwicklung der Denk- und Erkenntnis kraft und lege nicht den Schwerpunkt in das zu erkennende Objekt. Auch darüber sind alle Urteilsfähigen in jener Zeit einig, dass unter Pestalozzis „Anschauung“ etwas wie Kants „reine“ Anschauung und nicht empirische Wahrnehmung zu verstehen sei. Pestalozzi selbst hat dies wohl am deutlichsten zum Ausdruck gebracht in der im Dezember 1802 für einige Pariser Freunde aufgesetzten Denkschrift „Wesen und Zweck der Methode“.
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Buchsee und Iferten – Die Glanzzeit
Buchsee und Iferten – Die Glanzzeit
Die Tage von Burgdorf – wohl die glücklichsten seines Lebens – näherten sich indessen schon ihrem Ende. Im Winter 1802/03 war Pestalozzi als Abgeordneter in Paris, um über die Verfassung Helvetiens mit zu beraten. Aber bereits im März 1803 zerfiel die Helvetische Republik; an die Stelle der Zentralregierung, die für Pestalozzi stets mit Wärme eingetreten war, trat wieder die alte Kantonalverfassung; und da Pestalozzis Anstalt auf Berner Gebiet lag, war er auf das Wohlwollen der dortigen Regierung nunmehr angewiesen. Sie räumte ihm, da das Schloss Burgdorf anderweitig gebraucht wurde, stattdessen das Schloss Münchenbuchsee für seine Anstalt ein, die im Sommer 1804 dorthin übersiedelte. Sie kam dadurch in nächste Nähe des von Fellenberg in Hofwyl soeben neu gegründeten, hochangesehenen Instituts.
Philipp Emanuel von Fellenberg – 1771 – 1844
https://de.wikipedia.org/wiki/Philipp_Emanuel_von_Fellenberg
Fellenberg war von Pestalozzis Ideen ursprünglich ausgegangen und verfolgte mit seiner Anstalt zum Teil ähnliche Absichten wie dieser; daher entstand in einigen der Mitarbeiter Pestalozzis (besonders Tobler und v. Muralt, der Pestalozzi in Paris kennen gelernt und sich mit Begeisterung ihm angeschlossen hatte) begreiflich der Gedanke, durch eine äußere Vereinigung beider Anstalten, wobei der dafür ausgezeichnet begabte Fellenberg die Verwaltungssorgen ganz auf sich nehmen sollte, Pestalozzi von den beständig auf ihm lastenden wirtschaftlichen Nöten des Instituts ein für alle Mal zu befreien, damit er sich ungestört seiner eigentlichen Aufgabe der weiteren Erforschung der Methode und des erhebenden persönlichen Einflusses auf Lehrer und Zöglinge widmen könne. Es wurde darüber während Pestalozzis Abwesenheit ein vorläufiges Abkommen mit Fellenberg getroffen, welchem dann Pestalozzi nach seiner Rückkunft beitrat. Indessen fühlte er sich durch diese nicht ganz freiwillige Änderung einigermaßen auf die Seite geschoben; denn Fellenbergs Einfluss auf seine Anstalt blieb in der Tat keineswegs auf die äußere Verwaltung beschränkt. So konnte Pestalozzi in Buchsee nicht warm werden; er verreiste viel und überließ Fellenberg bald alles. Auch seine alten Mitarbeiter vertrugen sich mit diesem auf die Länge nicht, und so konnte die Vereinigung nicht von Bestand sein. Inzwischen war aber schon, als bekannt wurde, dass Pestalozzi Burgdorf werde räumen müssen, in verschiedenen Städten des Waadtlandes der Wunsch entstanden, die Anstalt dorthin zu ziehen; und da besonders in Iferten (Yverdon) die Behörden sich entgegenkommend zeigten, entschloss sich Pestalozzi, dort eine Anstalt zunächst neben der alten, in Buchsee noch fortbestehenden zu errichten. Begreiflich zogen dann aber seine Mitarbeiter, nachdem sie mit Fellenberg mehr und mehr uneins geworden waren, es vor, sich mit