»Was solI‘n das sein?« Finn kratzte sich gelangweilt an der Nase und trat näher an die Tafel heran.
»Mensch oder Monster?«, las mein Vater mit theatralischer Stimme vor. »Selkies - Legende oder Wahrheit? Entscheiden Sie selbst.«
»Was ist ein Selkie?«, fragte mein Bruder und puhlte sich mit dem Zeigefinger in den unerfindlichen Gefilden zwischen seinen Zähnen herum.
»Ein Selkie ist ein mystisches Wesen, das als Seehund in den schottischen Gewässern lebt und bei Bedarf auch als Mensch herumlaufen kann.« Meine Mutter schob sich zwischen uns. War ja klar, dass sie solche Gestalten wieder kannte.
»Sind sie gut oder böse?«
»Oh, ich denke, es gibt wohl Geschichten zu beidem. Es gibt Geschichten, dass Selkie-Männer menschliche Frauen in ihr Zuhause entführen und dort festhalten.«
»Dann ertrinken sie doch.«
»Hm, dann haben sie wohl einen ziemlich hohen Verschleiß«, grinste mein Vater und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wenn wir die Fütterung der Seehundbabys mitmachen wollen, müssen wir jetzt aber dorthin.«
Das wollten wir uns natürlich nicht entgehen lassen. Ich hätte zwar noch gerne mehr über diese Selkies gelesen, aber die Babys waren doch wesentlich interessanter. Fasziniert drängten wir uns kurz darauf mit anderen Besuchern vor einer dicken Glasscheibe und sahen einer Pflegerin dabei zu, wie sie das Futter einem Seehundbaby in das niedliche Maul schob. Es war dabei in ein Tuch gewickelt wie ein Baby und erinnerte mich ein bisschen an ET.
»Besonders spannend ist das ja nicht gerade«, nörgelte Finn. »Bekomm ich eine Pommes?«
»War ja klar, dass du wieder nur ans Essen denkst.«
»Mir ist langweilig. Hier gibt es gar nichts zu sehen.«
Leider musste ich ihm da zustimmen. Wir hatten schon alles gesehen, was der kleine Park zu bieten hatte.
»Immerhin unterstützen wir mit dem Eintrittsgeld eine gute Sache. Das kostet bestimmt eine Menge Geld, um den Zoo zu unterhalten. Und außerdem kümmern sie sich hier um verletzte und verwaiste Tiere«, meinte mein Vater.
»Das heißt, wir unterstützen noch viel mehr, wenn wir hier auch etwas essen.«
Meine Eltern verdrehten genervt die Augen, und ich tätschelte anzüglich den Bauch meines Bruders.
Schließlich machten wir uns mit gemischten Gefühlen kurz darauf auf den Heimweg. Was ich eigentlich nicht so schlecht fand, denn das bedeutete immerhin, dass ich gleich auf meine Radtour mit Fearghas gehen konnte.
Kaum fuhren wir auf den Hof, sprang ich hinauf in mein Zimmer. Ich riss den Schrank auf und zog eilig mein Badezeug heraus und stockte. Bikini oder Badeanzug? Den Bikini hatte ich mir von Julia aufschwatzen lassen, weil ich mich im Laden mal wieder für nichts hatte entscheiden können. Argwöhnisch betrachtete ich den Stoff der beiden Teile, die mit Schleifen zusammengehalten wurden. Das wäre sicher ganz nett gewesen, wenn wir Urlaub im Süden gemacht hätten, aber hier? In Schottland stellte ich mir da etwas Praktischeres vor. Oder nicht? Unentschlossen starrte ich von dem Bikini auf den Badeanzug und griff auf einen Abzählreim zurück, der mir die Entscheidung abnehmen sollte. Als dann doch der Bikini gewann, fluchte ich leise und entschied mich endlich für den Badeanzug. Fearghas war einfach sportlich und konnte einen Bikini vielleicht falsch interpretieren. Ich schlüpfte hinein und zog anschließend ein Trägershirt mit einer Bluse drüber an. Die Jeans behielt ich. Es war meine Lieblingshose, die würde ich auf keinen Fall wechseln. Eine kurze Überprüfung ergab auch keine Flecken, was eigentlich ein Wunder war, wenn man neben Finn saß, gleich wo. Nach einem Blick auf die Uhr griff ich noch eines der Badetücher und rannte wieder auf den Hof, wo ich mich suchend nach Fearghas umsah. Mairee, die gerade über den Hof kam, winkte mir zu: »Fearghas wartet unten an unserem Schuppen auf dich. Er wollte die Räder schon einmal fertigmachen, damit ihr gleich los könnt.«
»Danke, Mairee«, sagte ich, rief meiner Familie einen kurzen Abschiedsgruß zu und rannte den Weg wieder zurück.
Als ich mich dem Ufer des Lochs näherte, erkannte ich gleich den Mann, der bei Fearghas stand und auf ihn einredete. Verdammt, offensichtlich hatte mir dieser komische Reporter nicht geglaubt. Ich beschleunigte meine Schritte. Mein Gefühl sagte mir, dass mit diesem Kerl etwas nicht stimmte. Auch Fearghas stand ihm in abweisender Haltung, die Arme demonstrativ vor seiner breiten Brust verschränkt gegenüber. Der Reporter zeigte sich jedoch unbeeindruckt und griff sogar nach Fearghas Arm, der sich mit einem Schritt nach hinten der Hand des Mannes wieder entwand.
»Was tun Sie da?«, rief ich und stellte mich neben Fearghas, während ich versuchte, das Keuchen zu unterdrücken, das meine Lungen füllte.
»Du? Wieso hast du mich angelogen? Das ist doch der Junge, nachdem ich gesucht habe«, zornig funkelte er mich an. Unbehaglich wurde mir bewusst, dass wir mit diesem Mann hier ganz alleine waren. Die Segelboote schienen unbemannt, und Adam hatte etwas in der Stadt zu erledigen. Sicher, Fearghas war groß und sicherlich kein Schwächling, aber der Mann hatte noch breitere Schultern als Fearghas, die er unter dem perfekt geschnittenen Jackett kaum verbergen konnte.
»Weil ich über diese Geschichte kein Wort mehr verlieren möchte«, fuhr Fearghas dazwischen und schob mich unauffällig hinter sich. Das beruhigte mich nicht wirklich, denn das bedeutete, dass er die Bedrohung durch den Mann genauso wahrnahm wie ich. »Und jetzt verlassen Sie bitte das Gelände. Dies hier ist Privatbesitz.«
»Ich möchte mich doch nur kurz mit dir unterhalten. Begleite mich für ein Interview in mein Büro, und es wird dein Schaden nicht sein. Ich denke, zweihundert Pfund als Belohnung sind doch in deinem Alter nicht schlecht, oder?«, versuchte er es jetzt und lächelte wieder falsch.
»Danke, aber ich habe leider kein Interesse. Bitte gehen Sie - sofort!«
Es sah aus, als wollte der Mann noch etwas sagen, doch dann ertönte das leise Brummen eines Autos, das näher kam. Adam hoffte ich und sah auf den Weg.
»Gut, dann also nicht«, zischte der Reporter und warf ebenfalls einen schnellen Blick auf den Weg, auf dem jetzt tatsächlich Adams Wagen zu erkennen war. Erleichtert winkte ich ihm zu und registrierte aus den Augenwinkeln, wie sich der Reporter in seinen schwarzen Wagen setzte und davon fuhr.
»Bist du diesem Kerl schon einmal begegnet?«, fragte ich Fearghas, der sich langsam entspannte.
»Nein!«
»Er sieht dir ähnlich, weißt du?«, sagte ich vorsichtig. Doch noch, ehe Fearghas antworten konnte, hielt Adam und stieg aus.
»Na, ihr Zwei! Was war denn das für ein Kerl? Habe ich den nicht schon letztens hier gesehen?«
»Irgendein Reporter von einer Zeitung aus Oban.« Fearghas zuckte mit den Schultern. »Er wollte unbedingt wissen, was an dem Abend des Gewitters geschehen ist. Aber wir beide müssen jetzt los, Dad. Sonst wird es zu spät, um noch in der Bucht schwimmen zu gehen.«
»Du hast Recht. Viel Spaß«, damit zwinkerte er mir zu und ging zu seiner Hütte.
Fearghas führte mich zu einem kleinen Schuppen, an dem bereits drei Räder lehnten. Ich atmete auf, das eine war ein E-Bike. Das konnte ich hier sicher gut gebrauchen. Doch als ich danach greifen wollte, schob Fearghas mir ein Mountainbike zu und musterte mich auffällig anzüglich.
»E-Bikes sind doch nur etwas für alte Leute, Klara. Du bist doch nicht schon gebrechlich, oder?«
Ich wurde rot und schüttelte den Kopf. Nun gut, wenn man meine dünnen Beinchen betrachtete und die muskulösen Beine von Fearghas war ich im Gegensatz zu ihm sicherlich als gebrechlich zu bezeichnen. Aber ich schluckte jeden Kommentar herunter und nahm das Rad, das er mir zuschob.
»Der Weg führt uns an der Küste entlang. Dort gibt es kaum Steigungen.«
»Wenn nicht, werden wir wohl niemals die schöne Bucht erreichen, weil ich bereits vorher an akuter Überbelastung in irgendeinen Graben fallen werde.«
Fearghas lachte und fuhr los. Meine anfänglichen