Leo Nehab beschreibt auch die Faszination, die das in Posen stark vertretene Militär auf die heranwachsende jüdische Jugend ausübte. Das gleiche geht aus dem Bericht des letzten Synagogendieners Salo Glass hervor, der aus der Provinz Posen stammt. Im Jahr 1995 93-jährig und erblindet, beginnt er seinen von den Töchtern auf Diskette vermittelten Bericht mit der Feststellung, dass Posen zu dem angesehenen V. Armeekorps gehörte, sein Vater dort bei den Grünen Jägern, sein Onkel in Danzig bei den Schwarzen Husaren diente. Derselbe Glass schildert, wie er nach der Pogromnacht von einem Gestapo-Kommissar beauftragt wurde, Juden, die Selbstmord begangen hatten, abzuholen und beizusetzen. Darunter war ein ehemaliger Feldwebel des kaiserlichen Garderegiments, der sich die Uniform angezogen, seine Orden, EK I und II, angelegt und sich erschossen hatte. Ich glaube, nichts belegt deutlicher als dieser Vorgang den absoluten Bruch zwischen der Stellung der Juden im deutschen Kaiserreich und der NS-Epoche. Natürlich gab es auch in Frankfurt eine Ortsgruppe des "Bundes jüdischer Frontsoldaten" mit einer entsprechenden Jugendorganisation.
Kurz nach der Machtergreifung, spätestens mit dem Boykott vom 1. April 1933, begann die Drangsalierung der Juden, die in der Folge ständig zunahm. Besonders aufschlussreich sind die von Gerda Stein beschriebenen Machenschaften, mit denen die Nazis die Enteignung der Fabrik ihres Vaters in Drossen betrieben. Ein neues Stadium erreichte die Judenverfolgung in der Nacht vom 9./10. November mit den Ereignissen, die als "Reichspogromnacht" bzw. damals „Kristallnacht“ in die Geschichte und in die Erinnerung der noch lebenden Juden eingegangen sind. Es ist übrigens nicht richtig, diese Bezeichnung als verharmlosende Sprachregelung der Nazis zu werten. Eher lässt sie auf den makabren Humor der Berliner Bevölkerung schließen und dürfte von dort her auch von den betroffenen Juden übernommen worden sein. Die Synagoge wurde in Brand gesteckt, die jüdischen Geschäfte geplündert und zerstört, die jüdischen Familienväter in der Nacht verhaftet und bald darauf ins KZ Sachsenhausen eingeliefert, wo sie, wie in einigen der hier veröffentlichten Schilderungen beschrieben, unsäglichen Schikanen und Quälereien ausgesetzt wurden. Offensichtlich waren die Nazis mit dem Verlauf der jüdischen Auswanderung aus Deutschland nicht zufrieden und wollten diese durch die Verfolgung beschleunigen. Obwohl auch eine Anzahl von Morden zu verzeichnen ist, stand der Massenmord noch nicht auf dem Programm. Bekannt ist auch die über den wirtschaftlichen Schaden empörte Reaktion von Hermann Göring.
Noch in Frankfurt wurden einige jüdische Kaufleute wie Max Berlowitz nach Hause geschickt, um ihr zerstörtes Geschäft aufzuräumen und wiederherzustellen, offenbar um den verheerenden Eindruck der zerstörten Geschäfte nach außen zu beseitigen. Entlassungen aus Sachsenhausen erfolgten unter der Bedingung, dass die Ausreiseformalitäten geregelt waren. Dies war aber in vielen Fällen unmöglich geworden, nicht nur, weil es praktisch kaum noch Aufnahmeländer und damit Visen gab, sondern auch, weil die Juden durch Berufsverbot, Plünderung, Vermögenssperre und Enteignung gar nicht mehr die Mittel besaßen, die für eine Einwanderung nach Palästina und für die Bestechung der Konsulatsbeamten erforderlich waren.
Während England mit dem Palästina-Weißbuch die Einwanderung in das Mandatsgebiet Palästina ebenso wie nach England massiv erschwert hatte, beschloss das englische Parlament unter dem Eindruck der Kristallnacht immerhin, 10000 jüdische Kinder aus dem damaligen Deutschland mit Österreich und Deutsch-Böhmen in England aufzunehmen2. In Frankreich startete die Baronin Germaine de Rothschild und die OSE in kleinerem Rahmen ähnliche Aktionen3. So kam es innerhalb eines knappen Jahres zu einer neuen Ausreisewelle von minderjährigen Kindern, von denen damals auch in Frankfurt die meisten noch Verbliebenen von ihren Eltern in die Fremde geschickt wurden. Was es bedeutet, dass Eltern in dieser Existenznot sich von Kindern dieses Alters trennen und sie in eine ungewisse Zukunft schicken mussten, kann ein Außenstehender wohl kaum ermessen. In England gab es bei weitem nicht genug jüdische Familien, die imstande und bereit waren, diese Kinder aufzunehmen. So kamen sie häufig in christliche Familien, die teilweise strenggläubig waren - Pietisten, Baptisten, Methodisten, Quäker – und sich bemühten, sie taufen zu lassen. Bei den Jüngeren hatten sie oft Erfolg, die Älteren wurden jedoch in einen fast unerträglichen Zwiespalt versetzt. Hilde Naftaniel beschreibt, wie sie als zwölfjähriges Mädchen nach England kam und bei einem strenggläubigen, aber auch herzensguten Ehepaar eine neue Heimat fand. Hier wurde sie christlich erzogen und musste sich schließlich das Recht erkämpfen, in die Synagoge gehen zu dürfen. Auch der Synagogendiener Glass musste seine beiden Töchter, Ruth und Margot, mit verschiedenen Kindertransporten noch im Frühjahr und Sommer 1939 nach England schicken, da er sie auf seinem eigenen illegalen Palästinatransport nicht mitnehmen konnte. Abraham Baruch konnte alle seine Kinder, fünf an der Zahl, noch 1939 nach England schicken, und schließlich gelang es diesen, auch die Eltern noch herüberzuholen.
Das schwere Schicksal der von der Baronin Rothschild in Frankreich aufgenommenen Kinder schildert der ehemalige Frankfurter David Meyer sowie der Fernsehfilm „Die Reise der Kinder von La Guette“ von Andrea Mogenthaler. Mit der deutschen Besetzung Belgiens und Frankreichs wurden auch diese Kinder wieder dem Zugriff des Nazistaates ausgesetzt, entweder unmittelbar im deutschbesetzten Teil Frankreichs, aber auch im „freien“ Vichy-Frankreich, wo die französische Polizei kaum weniger rigoros den Transporten in die Vernichtungslager zuarbeitete. Die im Untergrund arbeitende OSE und christliche Organisationen bemühten sich, die elternlosen Kinder zu retten.
Die Stellung der sogenannten "Ostjuden" war doppelt schwierig, weil sie nicht nur dem Antisemitismus von deutscher Seite in besonderem Maße ausgesetzt waren, sondern auch von den assimilierten deutschen Juden abgelehnt wurden, ja ihnen vielfach die Schuld am Antisemitismus zugeschrieben wurde. Der Gegensatz zwischen „deutschen“ und Ostjuden hat allerdings in der jüngeren Generation keine große Rolle mehr gespielt. Hier war es eher so, dass unter dem Einfluss zionistischer Ideen die deutschen Juden gegenüber den Ostjuden gewisse Minderwertigkeitskomplexe entwickelten, da diese die jüdische Tradition weit besser bewahrt hatten als sie.
Wie tüchtig diese Ostjuden tatsächlich waren, zeigt das Beispiel des Schneidermeisters Wollmann. Er stammte aus einer jüdischen Familie in Minsk, in der zu Hause, wie dies in bürgerlichen jüdischen Familien Russlands anscheinend nicht selten der Fall war, deutsch gesprochen wurde. Im ersten Weltkrieg gelangte er als russischer Kriegsgefangener nach Frankfurt. Nach seiner vorzeitigen Entlassung blieb er wie auch andere russisch-jüdische Kriegsgefangene in Frankfurt und kam hier mit einer Schneiderei zu Erfolg und Reichtum. Seine Bemühungen um die deutsche Staatsbürgerschaft wurden freilich trotz bester Gutachten und Fürsprache durch angesehene Persönlichkeiten nach über einem Jahrzehnt dauernder Verzögerung 1932 abschlägig beschieden. Dies kann als ein Zeichen eines beginnenden Antisemitismus in der damaligen Beamtenschaft gewertet werden.
Allerdings bestätigen praktisch alle Aussagen der älteren Frankfurter Juden, dass bis zur Machtergreifung, jedenfalls im Umgang der Menschen miteinander, von Antisemitismus in Frankfurt wenig zu spüren war. Den jüdischen Ärzten fehlte es nicht an Patienten, den Rechtsanwälten nicht an Klienten, den Kaufleuten nicht an Kunden. Der Kinderarzt Neumark betreute die Säuglingsstation des Stadtkrankenhauses, der Zahnarzt Gumpert die umfangreiche Garnison, Offiziere gingen bei ihm ein und aus. Das änderte aber nichts daran, dass der von der Nazipartei propagierte Antisemitismus 1933 bei einem Teil der Bevölkerung sofort