Die verhafteten jüdischen Männer kamen seinerzeit fast alle wieder frei, doch konnten nur wenige vor Kriegsbeginn ausreisen. Alle Verbliebenen wurden später in Ghettos nach Warschau oder Posen deportiert. Im Mai 1939 wurde mein erster Sohn geboren, und als ich seinen Namen registrieren lassen wollte, musste ich aus einer Liste einen jüdischen Namen wählen. Ich wählte Elias, doch hieß er später in England Charles. Immerhin konnte ich am 25. August 1939 mit meiner Frau und dem Sohn Frankfurt verlassen und nach England reisen. Den Krieg über blieb ich in England.
Nach drei Monaten meldete ich mich zum Militär, war erst bei den Pionieren, wo ich beim Straßenbau eingesetzte wurde, dann konnte ich zur Artillerie überwechseln. Allerdings hatte ich dort Schwierigkeiten, denn statt der für die Ballistik nötigen Mathematik hatte ich im Seminar nur jüdische Kabbalistik gelernt. So wurde ich als Dolmetscher eingesetzt. 1947 erhielt ich mit der Entlassung zugleich die englische Staatsbürgerschaft. Ich war eine Zeitlang Rabbiner in London und wurde dann nach Bulawayo in Südrhodesien, dem heutigen Zimbabwe, berufen. Dort amtierte ich von 1957 bis zu meiner Pensionierung 1977 als Rabbiner. Seitdem lebe ich wieder in London.
Erst 56 Jahre nach der „Kristallnacht“, am 9. November 1994, kam ich wieder nach Frankfurt. Dort erlebte ich gemeinsam mit dem OB Pohl, mit Ignaz Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, dem Ministerpräsident Stolpe und anderen die Wiederaufstellung des Gedenksteins an die ehemalige Synagoge am Brunnenplatz.
1933. Zwölf Thesen wider den undeutschen Geist
Plakat in fetter roter Frakturschrift, im April 1933 überall angebracht in Fluren, Vorlesungsräumen und Mensen deutscher Universitäten.
1. Sprache und Schrifttum wurzeln im Volke. Das deutsche Volk trägt die Verantwortung dafür, dass seine Sprache und sein Schrifttum reiner und unverfälschter Ausdruck seines Volkstums sind.
2. Es klafft heute ein Widerspruch zwischen Schrifttum und deutschem Volkstum. Dieser Zustand ist eine Schmach.
3. Reinheit von Sprache und Schrifttum liegt an Dir! Dein Volk hat Dir die Sprache zur treuen Bewahrung übergeben.
4. Unser gefährlichster Widersacher ist der Jude, und der, der ihm hörig ist.
5. Der Jude kann nur jüdisch denken. Schreibt er deutsch, dann lügt er. Der Deutsche, der deutsch schreibt, aber undeutsch denkt, ist ein Verräter! Der Student, der undeutsch spricht und schreibt, ist außerdem gedankenlos und wird seiner Aufgabe untreu.
6. Wir wollen die Lüge ausmerzen, wir wollen den Verrat brandmarken, wir wollen für den Studenten nicht Stätten der Gedankenlosigkeit, sondern der Zucht und der politischen Erziehung.
7. Wir wollen den Juden als Fremdling achten, und wir wollen das Volkstum ernst nehmen. Wir fordern deshalb von der Zensur: Jüdische Werke erscheinen in hebräischer Sprache. Erscheinen sie in Deutsch, sind sie als Übersetzung zu kennzeichnen. Schärfstes Einschreiten gegen den Missbrauch der deutschen Schrift. Deutsche Schrift steht nur Deutschen zur Verfügung. Der undeutsche Geist wird aus öffentlichen Büchereien ausgemerzt.
8. Wir fordern vom deutschen Studenten Wille und Fähigkeit zur selbständigen Erkenntnis und Entscheidung.
9. Wir fordern vom deutschen Studenten den Willen und die Fähigkeit zur Reinerhaltung der deutschen Sprache.
10. Wir fordern vom deutschen Studenten den Willen und die Fähigkeit zur Überwindung des jüdischen Intellektualismus und der damit verbundenen liberalen Verfallserscheinungen im deutschen Geistesleben.
11. Wir fordern die Auslese von Studenten und Professoren nach der Sicherheit des Denkens im deutschen Geiste.
12. Wir fordern die deutsche Hochschule als Hort des deutschen Volkstums und als Kampfstätte aus der Kraft des deutschen Geistes.
Die Deutsche Studentenschaft
Luftkrieg über China. Gerhard Neumann
Gerhard Neumann, Herman The German (Autobiographie), Neuauflage Bloomington 2004.
Gerhard Neumann wurde im Oktober 1917 in eine wohlhabende Frankfurter Unternehmerfamilie geboren. Sein Vater, Siegfried Neumann, besaß die „Norddeutsche Bettfedernfabrik“ in der Gubener Straße, wo jetzt noch (2009) auf den Backsteingebäuden die verblichene Aufschrift zu lesen ist. Beide Eltern entstammten jüdischen Familien, praktizierten jedoch ihr Judentum nicht. Der Vater hatte sich gleich zu Beginn des ersten Weltkrieges freiwillig zum Militärdienst gemeldet. Die Erziehung im Elternhaus war streng preußisch.
Von 1927 bis 1933 besuchte Neumann das Friedrichsgymnasium in der Gubener Straße nahe der väterlichen Fabrik. Er baute Radios, unternahm ausgedehnte Touren mit seinem Faltboot und flog mit 15 Jahren Segelflugzeuge im Rahmen eines Sportprogramms – eine unbeschwerte Kindheit in der Weimarer Republik. Nach bestandenem Einjährigenexamen ging er zu dem Automechaniker Alfred Schroth in der Dammvorstadt in die Lehre. Dieser Mann besaß nur eine winzige Werkstatt, war jedoch ein wahrer Meister im Umgang mit Metall, Motoren und Schweißtechnik. Es sollte sich erweisen, dass Neumann diesen Lehrjahren nicht nur viel für seine spätere Laufbahn verdankte, sondern möglicherweise auch sein Leben.
1935 legte Neumann das Gesellenexamen ab und besuchte eine der renommiertesten technischen Schulen Deutschlands, die Ingenieurschule Mittweida in Sachsen. Er und zwei andere Juden durften dort studieren, weil ihre Väter Frontsoldaten gewesen waren. Selbst spürte Neumann zu dieser Zeit noch kaum etwas vom Antisemitismus. Schulfreunde und Lehrlingskollegen fanden nichts dabei, das Neumannsche Haus mitunter auch in brauner oder schwarzer Uniform zu besuchen. SS-Leute brachten ihre Wagen zur Reparatur in jüdische Werkstätten, und in Frankfurt fanden öffentliche Boxturniere zwischen dem örtlichen Verein und dem jüdischen Boxclub „Maccabi“ statt.
Mit der Pogromnacht 1938 änderte sich das. Neumann wurde klar, dass es für einen jüdischen Ingenieur in Deutschland keine Zukunft gab. Er erfuhr, dass die chinesische Nationalregierung deutsche Techniker suchte. Inzwischen waren allerdings die Japaner in China eingefallen und hatten die Küstenregionen besetzt. Der neue chinesische Regierungssitz Chongqing im Landesinneren war schwierig zu erreichen. Unter Mühen bekam Neumann die nötigen Transitvisen für 16 Länder zusammen. Im Mai 1939 flog er von London aus in acht Tagen über Marseille, Tunis, Alexandria, Beirut, Basra, Karachi, Kalkutta, Bangkok und Saigon nach Hongkong. Doch dort saß er fest.
Alle Verbindungen nach Nationalchina waren auf japanischen Druck hin gekappt worden. Inzwischen brach der Krieg auch in Europa aus. Wie alle Deutschen in Hongkong wurde Neumann von den Briten interniert. Doch im Juni 1940 erreichte er durch ein glückliches Zusammentreffen mit einem US-Manager eine Freistellung. Seine neue Arbeitsstelle war Kunming, Hauptstadt der Südwestprovinz Yunnan, und sein neuer Arbeitgeber der amerikanische Chefberater Oberst Lee Chennault.
Neumann erledigte verschiedene Aufträge für die Amerikaner und eröffnete dann in Kunming eine Autowerkstatt. Sie lief hervorragend. Doch ein ruhiges Leben als Automechaniker in der chinesischen Provinz war ihm nicht beschieden. Am 9. Dezember 1941 griffen die Japaner Pearl Harbour an. Ein US-Jagdgeschwader wurde noch im Dezember nach China verlegt und Chennault unterstellt – die „Flying Tigers“. Neumann wurde als Flugzeugingenieur rekrutiert. Er war nun Sergeant der US-Army, zugleich staatenlos, „feindlicher Ausländer“ und ohne Pass.
Nach anfänglichen Erfolgen gegen die japanischen Bombergeschwader sahen sich die US-Piloten mit den neuen Zero-Jägern konfrontiert. Sie waren den amerikanischen Kampfflugzeugen überlegen.