Als auch mein Vater endlich erkannte, dass sein Glaube an das "gute" Deutschland verfehlt war, wandte er seine ganze geistige und seelische Kraft der neuen Heimat zu, dem Land Israel. Wenn er etwas tat, tat er es ganz. Er erweiterte seine hebräischen Sprachkenntnisse, las die Bibel mit Hilfe der Buber-Übersetzung, versuchte sich an neuhebräischen Schriftstellern und Dichtern wie Agnon und Bialik, beschäftigte sich mit Geografie und Geschichte von Palästina und vertiefte sich in die Briefe von Freunden und Verwandten, die von den Schwierigkeiten erzählten und den Bemühungen, mit ihnen fertig zu werden. Betrüblich an der neuen Orientierung war nur, dass sie zu spät kam. Infolge der gespannten Lage hatten die britischen Behörden die Einwanderungspolitik geändert. Es gab nur noch eine begrenzte Zahl von Zertifikaten, hauptsächlich für Jugendliche und für Kapitalisten. Meinen Eltern aber war es aber unmöglich, nach fünf Jahren Hitlerregierung noch die verlangten 1ooo Pfund aufzubringen.
Im Spätsommer 1938 erhielt ich jedoch aus Berlin ein Auswanderungszertifikat für die Jugend-Alijah. In der Jüdischen Rundschau für Kinder war eine Geschichte von mir gedruckt worden, dafür gab mir die Jugendhilfe ein Stipendium für das Kinderdorf Ben Shemen, das für drei Jahre galt. Ich war damals dreizehn Jahre alt. Als meine Mutter mich bei dem Direktor des Lyzeums abmeldete, sah er sie ungläubig an: "Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie ein dreizehnjähriges Kind ohne Eltern in die weite Welt schicken?" "Was schlagen Sie denn vor, Herr Direktor?" fragte meine Mutter. Der Direktor schwieg.
Am letzten Schultag vor dem Abschied kam meine Freundin Ingeborg auf mich zu und sagte: "Ich wünsche dir viel Glück, aber glaube mir, es ist gut, dass du uns verlässt. Denn die Kluft, die uns voneinander trennt, ist wohl doch nicht zu überbrücken". "Ja, da wirst du wohl recht haben", antwortete ich. Am Tag, bevor ich Frankfurt für immer, wie ich glaubte, verließ, an einem der letzten Septembertage, nahm ich mit meinem Bruder auf einem Spaziergang durch die Anlagen Abschied. In Frankfurt war damals schon niemand mehr von meinen früheren Freunden. Alle waren entweder schon ausgewandert oder zeitweilig nach Berlin gezogen.
Zunächst fuhr auch ich nur nach Berlin. Ich meldete mich bei der Jugendhilfe in der Meineke-Straße. Dieser Komplex beherbergte alle möglichen zionistischen Institutionen. Zunächst wurden wir auf einem Gut unweit von Berlin auf unsere neue Zukunft in Palästina vorbereitet. Wir arbeiteten in Haus, Garten und Feld, lernten Hebräisch, sangen und tanzten palästinensische Volkstänze und diskutierten das Blaue vom Himmel herunter. Als das Lager zu Ende war, enthüllte man uns, dass für uns fünfzig Kinder nur 25 Zertifikate bereit lagen. Die Leiter des Lagers, junge Leute von 21, 22 Jahren, mussten entscheiden, wer fuhr und wer blieb. Zu ihrem Glück wussten sie damals nicht, dass sie über Tod oder Leben zu beschließen hatten. Nachher ging alles sehr schnell. Jetzt war ich diejenige, die am Anhalter Bahnhof im Zuge saß, und die andern standen unten am Fenster. Mein Bruder Alfred reiste einen Monat später aus, er bekam ein Studentenzertifikat für die Musikschule in Jerusalem, die damals gegründet worden war. Gleich nach seiner Abfahrt kam die "Kristallnacht".
Ich fuhr auf dem Schiff zusammen mit der verwitweten Frau Aronheim und deren beiden jüngeren Söhnen Hermann und Peter nach Palästina. Als knapp Vierzehnjährige kam ich in ein neues Land - kein fremdes, denn ich hatte ihm schon jahrelang entgegengeträumt. Dennoch war alles anders, das Licht, die Farben, Gerüche, Stimmen, Gesichter, man aß andere Speisen, kleidete sich anders, las andere Bücher. Bäume und Blumen hatten keine Namen, und die neue Sprache reichte trotz der jahrelangen Studien nur für gerade das Allernötigste. Ich stand vor der Frage, ob ich, um dieses Neue und Fremde mir anzueignen, all das bisschen Wissen, das ich von meinem ersten Zuhause mitgebracht habe, hinter mich werfen, es vergessen, mit der Vergangenheit brechen muss.
An den ersten Tag im neuen Land erinnere ich mich noch ganz genau. Am Abend unserer Ankunft gab es Schießereien, das Land war unruhig, die Fahrt vom Hafen zum Jugenddorf Ben Schemen legten wir in einem gepanzerten Wagen zurück. Einige der jüngeren Lehrer waren gegen Angreifer ausgezogen, wir lagen mit unseren neuen Gefährten im Dunkeln auf dem Fußboden und zitterten um ihre Sicherheit. Aber als uns die Kinder am Morgen den Hügel herauf zum wöchentlichen Schabbatkonzert führten, war davon nichts mehr zu spüren. Die große Essbaracke, in der das Konzert stattfand, war vollgestopft mit jugendlichen Zuhörern. Die beiden Musiklehrer des Dorfes spielten Violinsonaten von Mozart und Beethoven, ein Mädchenchor sang Duette von Mendelssohn mit hebräischem Text und Lieder der Dichterin Rachel, die wir schon kannten. An diesem Morgen muss ich wohl glücklich gewesen sein, weil Mozart und Beethoven für die Geborgenheit und das Zuhause Sein standen, und weil sie so schön und richtig klangen auf dem Hügel im neuen Land, und weil sich die hebräischen Worte so schön einfügten in die Melodien von Mendelssohn, und weil all das eine feste Brücke bildete zu den zurückgebliebenen Eltern und dem Land der Geburt, und weil sich plötzlich herausstellte, dass etwas neu beginnen kann und zugleich auch weitergehen, ohne Bruch.
Unser Vater wurde in der Kristallnacht mit vielen anderen verhaftet und kam nach Sachsenhausen. Damals hieß es, wer ein Einreisevisum für irgendein Land vorweisen kann, wird entlassen. Zu dieser Zeit wollten sie die Juden nur los werden, noch nicht umbringen. Aber wie an ein Zertifikat kommen, das für die Einreise in Palästina erforderlich war? Eine Schwester unserer Mutter, Lucy Nelken, Frau eines angesehenen Arztes hier in Jerusalem, im Grunde eine sehr schüchterne, zurückhaltende Frau, ist damals von Haus zu Haus gepilgert, um von allen Bekannten, Freunden und Patienten ihres Mannes Geld zu erbitten. So hat sie tatsächlich die erforderlichen 1000 Pfund zusammengebettelt. Was sie das gekostet haben muss, kann man sich gar nicht vorstellen.
Nun war das Problem, wie man dieses Geld sicher nach Deutschland bringen konnte, denn meine Mutter musste der britischen Botschaft einen Bankbeleg vorweisen. Wir hatten eine Verwandte, eine Cousine zweiten Grades meiner Mutter, die Tochter des sephardischen Chief Rabbi von London, Irene Gaster. Sie hat sich in Israel für geistesschwache Kinder engagiert und Heime und eine Gesellschaft für behinderte Kinder, Akim, gegründet. Sie kam als englische Staatsbürgerin mit dem Geld nach Deutschland. Tatsächlich erhielt meine Mutter dann das letzte Zertifikat, das damals ausgegeben wurde. Sie stand in der Reihe vor der Visumausgabe, und gerade als sie dran war, ging der Schalter zu. Sie war völlig verzweifelt und protestierte so energisch, dass sie schließlich das Zertifikat doch noch bekam. Später wurden keine Zertifikate mehr ausgegeben.
Aufgrund dieses Zertifikats wurde dann mein Vater freigelassen. Im März 1939 kamen die Eltern nach Palästina. Mein Bruder und ich durften sie im Hafen von Tel Aviv in Empfang nehmen. Der neue Hafen war wegen der arabischen Unruhen in aller Hast instandgesetzt und ausgebaut worden. Mein Vater kam völlig verändert ins Land, ein gebrochener Mann. Er hatte schon im Lager einen Parkinson-Anfall bekommen, vorher war er kerngesund gewesen. Er konnte hier auch zunächst nicht mehr praktizieren. Als er nach längerer Zeit doch die Lizenz bekam, war er bereits zu krank und wurde immer kränker. Meine Eltern hatten es sehr schwer. Wir waren auch zu jung, um ihnen helfen zu können.
In Ben Shemen gab es ein Kinder- und ein Jugenddorf, geleitet von dem berühmten Erzieher Dr. Siegfried Lehmann, einer großen Persönlichkeit. Wir hatten