The Racing Flower Pilgrim. Philipp Döhrer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Philipp Döhrer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783754929551
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Das kenne ich schon. Frankreich, Spanien und auch Italien haben noch nicht bemerkt, dass es sinnvoll sein kann, die Marken und Karten im selben Geschäft zu verkaufen. Daher durchquere ich auf der Suche nach dem mir beschriebenen Tabakladen jede Straße der Stadt mindestens zwei Mal. Dumm nur, dass es zwei Tabakläden in Saint-Jean gibt, aber nur einer davon Briefmarken verkauft. Die ersten Meter stecken mir also schon in den Knochen. Aber dadurch kenne ich Saint-Jean jetzt sehr ausführlich.

      Nun sitze ich in einem Café. Ich schreibe meine Postkarten, trinke Kaffee und sammle alle Kräfte, die ich auftreiben kann. Gleich geht es endgültig los.

      Gegen 10:30 Uhr werfe ich meine fertigen Postkarten in einen Briefkasten. Bis ich den gefunden hatte, ging auch Zeit ins Land. Warum muss das denn nur so schwierig sein?

      Am Stadttor an der Brücke, am Anfang des Weges mache ich von mir ein Ich-lauf-dann-mal-los-Bild, stelle es in meinen Status und schalte mein Handy in den Flugmodus. Kein Empfang, nur Kamera. Dann, tja, dann laufe ich tatsächlich los.

      Endlich. Ich bin endlich unterwegs auf dem Weg, den ich seit so vielen Jahren gehen wollte. Unterwegs, um einfach unterwegs zu sein.

      Die Pyrenäen sind schön. Die Pyrenäen sind sehr, sehr schön. Das muss man sich nur immer wieder sagen.

      Es ist sauschwül. Ich triefe unheimlich sehr. Die ersten Meter verlangen meinem Körper schon alles ab. Es geht hinaus aus Saint-Jean und direkt steil nach oben. Aber ertragbar. Schön ist es aber wirklich hier. Die Landschaft der Pyrenäen öffnet sich vor mir, während es weiter und weiter bergauf geht. Das Laufen macht den Füßen selbst auf den steilsten Abschnitten keine Probleme, aber die Schwüle setzt diesen ersten Kilometern ein verschwitztes Sahnehäubchen auf.

      Eines der ersten Schilder am Wegesrand gehört zum Refuge Orisson. Beruhigend. Ich passiere einige einsame Höfe und Herbergen vor atemberaubender Bergkulisse, aber ich sehe keinen einzigen anderen Menschen. Es wird wohl wirklich so sein, wie ich es ahnte. Alle anderen Pilger sind schon früh los und machen die Hauruck-Tour. Ich bin eben ein Spätpilger. Genug Zeit macht‘s möglich. Mein erster und einziger sozialer Kontakt auf dem Camino ist vorerst ein Esel, der mich beim Fotografieren dermaßen anbrüllt, dass mir fast das Handy runterfällt. Netter Typ eigentlich. Müffelt nur ein wenig streng.

      Ungefähr nach der Hälfte meiner heutigen, kurzen Etappe und einem sehr steilen Anstieg entlang einer Kuhweide mache ich die erste Pause und genieße das Panorama. Auf einer kleinen Wiese am Abhang sitze ich so vor mich hin. Es ist einfach nur geil. Die Sicht ist klar, die Berge sind kilometerweit gut einsehbar. Ich versuche zu begreifen, dass ich wirklich hier bin. Ich versuche zu begreifen, was noch vor mir liegt. Ich versuche zu begreifen, was ich mir aufgebürdet habe. Vielleicht begreife ich es bald.

      Während ich sitze, sehe ich die ersten beiden Menschen, die mir heute direkt auf dem Weg begegnen, den Hügel erklimmen. Die kenn ich doch, das sind doch die beiden Damen, die sich heute Morgen auch an meine Fersen geheftet haben, um das Pilgerbüro zu finden. Schnaufend stoppen sie bei mir. Wir kommen schnell ins Gespräch. Die beiden Frauen sind Marion und Sara aus Irland. Mutter und Tochter. Auf Anhieb sind wir uns sehr sympathisch. Als wir feststellen, dass wir alle heute das Ziel Refuge Orisson haben, freuen wir uns umso mehr. Der Camino verbindet. Schon jetzt. Marion und Sara gehen voraus, aber nur wenige Meter weiter treffe ich sie wieder. Marion gibt mich als Saras Freund aus, da sie einen nervigen Franzosen abschütteln will, der sich sehr viel darauf einbildet, dass er acht Kilometer den Berg hinaufgejoggt ist und sich nun schon wieder auf dem Rückweg befindet. Posierend präsentiert er sich vor Sara. Arroganter Fatzke. Da helfe ich gerne.

      Es kann nicht mehr weit bis zum Ziel sein, also passen wir unser Tempo aneinander an. Eile ist nicht nötig. Marion hat Probleme mit der Hüfte, also laufen Sara und ich in ruhigem Schritt vor ihr her. Ganz gemütlich und langsam geht es weiter steil nach oben. Wir bekritzeln ein paar Zaunpfähle mit unseren Namen, während sich der Camino immer weiter in die Höhe schraubt und immer felsiger wird. Die Aussicht wird mit jedem Höhenmeter schöner und als ich auf einem ersten, kleinen Plateau ankomme, muss ich kurz sitzen und genießen. Marion und Sara gehen weiter. Ich bin begeistert über die Sicht, aber verwundert über den weiteren Wegeverlauf. Alles was ich sehe, ist der sich am Hang über das Plateau windende Camino, der kurz nach einer Kurve in einigen hundert Metern wieder steil ansteigt. Hä? Nach meinem Kilometerstand müsste hier eigentlich meine Herberge kommen. Der Weg ist wieder asphaltiert, was auch auf ein Fitzelchen Zivilisation hindeutet. Aber wo ist das Orisson? Okay, erstmal weiter.

      Direkt nach der erwähnten Kurve stehe ich unvermittelt ganz plötzlich vor einem kleinen Steingebäude. Ja, das ist es. Der Camino hat mich veräppelt. Genau in der Biegung, nicht einzusehen vom Rand des Plateaus, versteckte sich das Refuge Orisson. Diese legendäre Herberge. Das kleine Hauptgebäude beherbergt Schlafsäle und Restaurant und eine riesige Aussichtsterrasse gegenüber, unter der sich weitere Schlafsäle befinden, lädt zum Staunen ein. Und sonst: Nichts. Weit und breit nur Berge und der Himmel. Ich bin jetzt schon froh über die Entscheidung, hier zu übernachten. Es ist 14:30 Uhr. Ich bin da. Die erste, kleine Etappe ist geschafft.

      Rucksack runter und einchecken. Ein netter Franzose erklärt mir alles in erstaunlich gutem Englisch. Für einen Franzosen. Ich verabrede mich mit Sara und Marion für später zum Bier auf der Terrasse und der nette Franzose zeigt uns nacheinander die Zimmer. Beziehungsweise unsere Betten. Sara und Marion sind im unteren Teil untergebracht, in einem Zimmer unterhalb der Aussichtsterrasse. Ich werde in den oberen Teil geführt, mein Zimmer befindet sich über dem Restaurantbereich. Zuerst: Schuhe aus. Ab ins Regal vor dem Schlafbereich damit. Keine Wanderschuhe im Inneren erlaubt. Gut, dass ich zuhause gerade noch so an Badelatschen gedacht hab. Sehr laut und deutlich sagt der Eincheck-Franzose zu mir: „Get off your shoes. NOW!“ Ich habe kurz Angst. Seine Augen zeigten kurz einen rötlichen Schimmer. Nun grinst er wieder freundlich. Muss wohl die dünne Bergluft sein. Ich bekomme ein Zimmer mit drei Doppelstockbetten zugewiesen. Die drei oberen Betten sind jeweils noch frei. Es ist zwar kein weiterer Pilger momentan im Raum, aber ein paar Mallorca-Touristen haben die drei unteren Betten bereits mit Handtüchern markiert. So läuft das hier wohl auch. Ich werde es noch lernen. Aber ich bin erstaunt, dass es schon auf der kurzen, ersten Etappe bis ins Orisson einige Frühpilger gab. Na ja, dann schlaf ich halt im oberen Bett. Mit meiner schwachen Blase. Läuft. Hoffentlich läuft es nicht aus.

      Ich lege kurz meine Sachen für morgen zurecht und verstaue meinen Rucksack. Es gibt sogar einen Schrank dafür. Waschen muss ich nichts, alles, was ich heute trage, fliegt sowieso weg. Bis auf meine Blümchenhose. Wichtiges Ding. Ansonsten ab jetzt nur noch das, was im Rucksack ist. Ich mache eine kurze Katzenwäsche, ziehe mein Feierabendhemd an und mache mich auf den Weg raus zur Terrasse. Das Bergpanorama ist der Hammer. Respekt an denjenigen, der auf die Idee kam, hier eine Herberge und vor allem, diese Terrasse zu errichten. Fast alle Plätze sind schon besetzt, aber Marion und Sara haben mir einen Stuhl an ihrem Tisch freigehalten. Direkt am Geländer neben mir fällt der Berg steil ab und öffnet die Sicht über eine weite, weite Pyrenäenschlucht. Kühe grasen an den Hängen und man hört ab und zu das Klingen ihrer Glocken. Der Ort ist irgendwie magisch. Leute, solltet ihr jemals den Camino Francés laufen, übernachtet im Orisson. Aber vorher buchen. Ganz wichtig.

      Bier bestellen, anstoßen, Panorama genießen. So dümpelt der Nachmittag vor sich hin, während wir über Gott und die Welt, über Irland und Deutschland, über den Camino und den Rennsteig reden. Sara und ich sind ein Jahrgang und wir verstehen uns prächtig. Einzig der irische Akzent macht mir das Verstehen mancher Worte schwer. Schade, dass die beiden Damen nur knapp eine Woche Zeit haben und daher nur bis kurz hinter Pamplona laufen. Sehr schade. Machen wir das Beste draus.

      Im Laufe des Nachmittags stoßen David, Kelly und Heidi aus Florida zu unserer Runde. Interessante Truppe. David ist ein stämmiger Kerl und möchte auf dem Camino lernen, nicht mehr so viel zu quatschen und nicht überall seinen Senf dazu zu geben. Trotzdem quasselt er in der Zeit des Kennenlernens ununterbrochen. Seine Freundin Heidi ist ein zierliches Ding und sagt meistens einfach gar nichts. Aber wenn, dann fällt sie David ins Wort und beide beginnen ein gleichzeitiges Gespräch mit dem gleichen Gesprächspartner. In dem Fall also mir. Verwirrend. Kelly, ein zerbrechliches Wesen, ist sehr sentimental und von jeder persönlichen Geschichte,