Ganz kurz sortieren, sammeln und duschen. Alex und ich können sogar Zigaretten auftreiben, nachdem wir im Ort suchten, nichts fanden und danach mehrfach an unserem hauseigenen Zigarettenautomaten vorbeiliefen. Zu viel Luxus macht blind. Später entscheiden wir, uns für vier Euro einen gemeinsamen Waschmaschinen- und Trocknerdurchgang für unsere Wäsche zu gönnen. Guter Deal. Aber jetzt reicht‘s, das wird langsam zu viel des Guten. Ich werde sonst innerhalb der ersten Tage zu sehr verwöhnt.
Umgezogen, geduscht und frisch gezapft machen wir es uns mit alkoholischen Kaltgetränken im Schatten vor der Herberge gemütlich und verschwatzen einfach den restlichen Nachmittag. Zwischen Alex, Inga und mir herrscht eine schöne, sofortige Verbundenheit.
Die beiden sind verheiratet, ungefähr in meinem Alter und unsere Erfahrungen überschneiden sich in vielen Bereichen. Wir reden über Privates, über Wohnorte an der Ostsee und im Thüringer Wald, über das Leben ganz allgemein und nicht selten lachen wir uns gegenseitig die Taschen voll. Inga lief schon vor sieben Jahren den ganzen Camino Francés mit ihrer Mutter, war mit Alex schon auf dem portugiesischen Camino und dem Camino del Norte unterwegs. Ein beeindruckender Erfahrungsschatz.
Eine Anekdote jagt die nächste, bevor wir uns recht widerwillig gegen Abend mit vielen anderen Gästen zum Pilgermenü treffen. Widerwillig, weil ich eigentlich nicht schon wieder drei Gänge, geschweige denn Rotwein, brauche. Alex und Inga auch nicht. Aber na ja. Ausnahmsweise. Einfach aus Mangel an Alternativen.
An unserer Pilgertafel sitzt natürlich auch mal wieder Lucy. Ich bin gespannt, ob der inkludierte Wein für sie ausreichen wird. Ich spekuliere über die Gänge des bevorstehenden Menüs, aber Inga winkt gleich ab. „Pass auf, zu 90 Prozent wird es wie folgt ausfallen: Der erste Gang besteht aus Nudeln oder Salat. Der Hauptgang besteht aus Pommes mit irgendwelchen dünnen Schnitzeln, egal welche Sorte Fleisch, und danach gibt es einen Becher Joghurt oder ein Eis am Stiel. So ist das fast immer.“ Recht hat sie. Nudeln, Schnitzel, Pommes, Eis.
Da er sowieso auf dem Tisch steht, vergreifen wir uns auch an dem Wein, welcher in Kombination mit dem nachmittäglichen Bier eine Welle der Heiterkeit aus uns herauskitzelt. Das besagte Eis am Stiel überlasse ich Hanne, schnappe mir mit Alex noch ein Bier für die Terrasse und lasse den Abend gemütlich ausklingen. Ein Versuch, auf meiner verzogenen Ukulele zu spielen, scheitert an Alex‘ musikalisch verwöhntem Ohr. Oh Mann, wird echt Zeit für ein neues Instrument.
Später im Zimmer registrieren wir erstmals all unsere Schlafgefährten, die Phantompilger des Nachmittags. Zwei französische Paare, ein Kanadier, ein Italiener und natürlich ist auch Wein-Lucy in unserem Schlafsaal.
Sie zieht sehr viel Aufmerksamkeit des männlichen Anteils im Zimmer auf sich. Man merkt aber auch, dass sie genau das will. Jetzt im Moment wird der Kanadier von ihr bezirzt. Scheint schon ganz hingerissen zu sein.
Ich gönne euch jede Liebelei, macht nur. Ich hab ja meine Oropax.
Ich legte heute 25 Kilometer zurück und stellte fest: Auch in einem Grüppchen ist man genau so oft alleine, wie man es sein muss.
29.08.2019 06:15 Uhr
Titel dieser Nacht: „Karin hält die Welt in Atem“.
Beziehungsweise die Herberge Haizea. Vielleicht auch nur mich. Ich habe Oropax im Ohr, aber ihre Lautstärke beim Schnarchen in dem Bett direkt neben mir ist schon eine Nummer für sich. Gestern Abend tönte sie, dass sie immer ganz, ganz früh loslaufen will. Noch im Licht der Sterne. Nun ist sie die einzige Person im Raum, die überhaupt noch liegt. Alex, Inga und ich trödeln während des morgendlichen Frischmachens etwas vor uns hin. So sehr, dass in der Zwischenzeit Hanne, Maria und selbst Karin bereits aufbrechen. Plötzlich war sie ganz schnell auf den Beinen. Wir sind ganz entspannt. Im Stockdunkeln loslaufen brauche ich nicht unbedingt.
Nach der Morgenzigarette vor der Herberge machen wir drei Genossen uns gegen 07:05 Uhr dann auch mal ganz langsam auf den Weg in die baskische Morgenfrische Espinals. Um einiges früher als gestern. Mal sehen, was das für einen Unterschied macht. Alles im Ort ist noch still und verschlafen. Selbst die Blumen an den weißen Häuserfronten lassen ihre Köpfe hängen. Hinter Espinal folgt ein sanfter Anstieg im Frühnebel. Schafe und Kühe blöken und muhen uns zu. Auf Baskisch. Verstehen wir leider nicht.
Nach einem finsteren Wald begegne ich auf einer erhöhten Ebene einem finnischen Pärchen. Vom Sehen kenne ich sie schon seit gestern, sie waren auch in unserer Unterkunft im Nachbarzimmer. Sie ist typisch finnisch blass und blond. Er sieht aus wie Ed Sheeran. Ohne Scheiß. Zum Verwechseln ähnlich. Sie stehen beide unter einem riesigen Baum auf der Ebene. Ed kramt eine gewaltige Kamera hervor und versucht, die Nebelschwaden am gegenüberliegenden Hügel zu fotografieren. Leider versäume ich es, ihn zu fragen, wie viel dieses Monstergerät wiegt. Dem Aussehen nach mindestens halb so viel wie mein komplett gepackter Rucksack. Wer’s braucht.
Während die Sonne langsam, aber sicher durch den Nebel bricht, folgen wir dem Camino weiter. Inga, Alex und ich bleiben ganz nah beieinander. Nett ist der Weg zu uns nicht. Es geht hügelig hoch und runter. Das ist nicht schlimm. Aber über unglaublich hartes Pflaster. Anscheinend brandneu gelegt. Das ist schlimm. Es staucht Knie und Oberschenkel extrem zusammen. Wer kam nur auf diese beknackte Idee? Laut Inga war hier früher nur ein schöner, weicher Wald- und Wiesenweg. Warum konnte man das nicht einfach so lassen? War wohl kommunales Geld übrig und musste verpulvert werden.
Aufatmen nach diesem stauchenden Stück Weg können wir erst am Ortseingang von Viscarret. Auf dem Dorfplatz werden wir freudig von Hanne, Maria und Karin begrüßt, die hier in der Bar Juan an ihrem Frühstück arbeiten. Guter Plan, da machen wir mit. Bei der Wirtin, einer niedlichen, alten Baskin, hole ich mir einen Stempel und einen Café con leche ab. Schon ziemlich geil, jede noch so kleine Bar macht einen sensationellen Kaffee mit immer frisch erwärmter und aufgeschäumter Milch. Später hole ich mir davon noch einen zweiten, als Karin mit Maria bereits weiterzieht. Eine tolle Kaffeepause in der noch jungen Morgensonne.
Bei einem kurzen Olivenkaufstopp im örtlichen Mini-Supermarkt treffen wir Ed Sheeran wieder und halten ein kurzes Pläuschchen. Ein kurzes Ständchen im Austausch für ein paar frisch erstandene Oliven lehnt er allerdings ab. Schade. Dann geht es weiter. Wald und Straße wechseln sich ab. Die Sonne nicht. Sie steigert sich nur. Immer weiter. Heute will sie es richtig wissen.
In Lintzoain, einem winzigen Dorf, geht es schlagartig bergauf. Und wie. Aus dem Nichts. Mein Berg-Fetisch packt mich und ich bin im Tunnel. Hinter mir höre ich Hanne noch sagen: „Ah, jetzt kommt wieder das Philipp-Tempo“ und weg bin ich. Der Anstieg hat es echt in sich. Ein steiler Hohlweg voller Geröll. Ich staune selbst, wie schnell ich ihn bewältige. Sacknass geschwitzt, aber sonst topfit. Oben angekommen schnaufe ich ein wenig durch und hole kurz danach Karin wieder ein, die unglaublich gemütlich vor sich hinschlendert. Wenigstens schnarcht sie nicht mehr. Es wirkt fast als meditiere sie die ganze Zeit auf dem Camino. Das ist kein Tempo für mich. Ich ziehe wieder ein bisschen an. Unterwegs bleibe ich sehr oft stehen, denn ich könnte ständig Fotos machen. Meist versuche ich das direkt während des Laufens, aber manchmal funktioniert das nicht. Der Weg führt mich durch einen wunderschönen Wald, die Sonne bricht durch die Bäume. Meiner pflanzlich-biologischen Unkenntnis sei verziehen, aber ich vermute, es sind Pinien und Lärchen. Es riecht jedenfalls herrlich nach Nadelholz. Als säße man in einer Badewanne, prall gefüllt mit hölzernem Schaumbad. Meinen Fotostopps sei Dank, haben mich meine anderen Mitpilger recht zügig wieder eingeholt und fröhlich gelaunt laufen wir weiter. Der Schatten lässt nach, der Wald lichtet sich. Ich brauche mein Kopftuch.
An einem Imbisswagen füllen wir die dringend benötigten Wasservorräte auf. An diesem Stand steht auch die berühmte Kiste, in die man traditionell ein Stück Unterwäsche legt. All das nur in der Hoffnung, dass man auf dem Camino seine große Liebe findet. Bräuche gibt’s. Ich bin momentan nicht auf der Suche nach etwas in dieser Richtung. Mir reicht das Wasser.
Ein