Schein und Schuld. Anna Katharine Green. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Katharine Green
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754178805
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Thomas: »Gestern abend beim Essen.«

      »Es hat ihn aber jemand noch später gesehen, nicht wahr?«

      »Jawohl. Herr Harwell sagt, er sei noch um halb elf Uhr bei ihm gewesen.«

      »Welches Zimmer bewohnen Sie hier im Hause?«

      »Ein Stübchen im Erdgeschoß.«

      »Und wo schlafen die anderen Mitglieder des Haushaltes?«

      »Zum größten Teil im dritten Stock; die Damen in den großen Hinterzimmern, Herr Harwell in einem kleinen nach vorn gelegenen Gemach, die Dienstmädchen schlafen oben.«

      »Es befand sich also niemand mit Herrn Leavenworth in derselben Etage?«

      »Niemand.«

      »Um welche Zeit begaben Sie sich zur Ruhe?«

      »Etwa um elf Uhr.«

      »Erinnern Sie sich gar nicht, vor oder nach dieser Zeit ein Geräusch im Hause vernommen zu haben?«

      »Nicht das geringste,« lautete die bestimmte Antwort.

      Aufgefordert, einen ausführlichen Bericht seiner Entdeckung im Bibliothekzimmer zu geben, wiederholte Thomas alle Einzelheiten mit der größten Genauigkeit, und ohne sich auch nur in den geringsten Widerspruch zu verwickeln.

      »Und wie nahmen die Damen jene Entdeckung auf?« fragte der Coroner, nachdem der Hausmeister seine Schilderung beendet.

      »Sie folgten uns in das Zimmer, in welchem der Mord geschehen war; Fräulein Eleonore wurde beim Anblick der Leiche ohnmächtig.«

      »Und die andere Dame? Fräulein Mary, glaube ich, heißt sie –«

      »Ich weiß mich dessen nicht mehr zu erinnern, da ich beschäftigt war, Wasser für Fräulein Eleonore zu holen.«

      »Wann wurde Herr Leavenworth in das Schlafzimmer geschafft?«

      »Unmittelbar nachdem Fräulein Eleonore sich erholt hatte.«

      »Und das geschah?«

      »Sobald das kalte Wasser ihr Gesicht benetzte.«

      »Wer gab den Befehl, die Leiche wegzubringen?«

      »Fräulein Eleonore; sie trat an den Toten heran, dabei schauderte sie zusammen und bat dann Herrn Harwell und mich, ihn auf das Bett zu legen und einen Arzt zu holen. Wir thaten, wie sie uns geheißen.«

      »Begab sie sich mit Ihnen in das anstoßende Gemach?«

      »Nein, Herr.«

      »Was that sie denn?«

      »Sie blieb am Tisch im Bibliothekzimmer stehen.«

      »Und was machte sie dort?«

      »Das konnte ich nicht sehen, da sie mir den Rücken zukehrte.«

      »Wie lange verweilte sie dort?«

      »Bei unserer Rückkehr war sie nicht mehr da.«

      »Nicht mehr am Tisch?«

      »Ueberhaupt nicht mehr im Zimmer.«

      »Hm. – Wann sahen Sie das Fräulein wieder?«

      »Sie trat wieder ein, als wir das Bibliothekzimmer verlassen wollten.«

      »Hatte sie etwas in der Hand?«

      »Nicht, daß ich wüßte.«

      »Vermißten Sie irgend etwas auf dem Tisch?«

      »Darum habe ich mich gar nicht gekümmert.«

      »Wen ließen Sie im Zimmer zurück, als sie hinausgingen?«

      »Die Köchin, Molly und Fräulein Eleonore.«

      »Fräulein Mary nicht?«

      »Nein, Herr.«

      »Hat die Jury noch irgendwelche Fragen an den Zeugen zu richten?«

      Bei dieser Frage machte sich eine Bewegung unter den Geschworenen bemerkbar.

      »Ich hege allerdings die Absicht,« sagte ein kleiner, aufgeregter Mann, der schon geraume Zeit auf seinem Sitz unruhig hin und her gerückt war, als könne er es nicht erwarten, den Gang der Untersuchung zu unterbrechen.

      »Ich stehe zu Diensten,« antwortete Thomas.

      Als jedoch der Geschworene sich räusperte, um sein Verhör zu beginnen, ergriff ein großer selbstgefälliger Mann, der ihm zur Rechten saß, die Gelegenheit, ihm das Wort vom Munde wegzunehmen.

      »Da Sie, Ihrer Aussage nach, zwei Jahre in dieser Familie gedient haben, so werden Sie uns auch wohl mitteilen können, ob es in derselben stets friedlich und einträchtig zugegangen ist.«

      »Soweit mir bekannt ist, ja,« antwortete der Hausmeister, ernst um sich blickend.

      »Standen die jungen Damen mit ihrem Oheim immer auf gutem Fuße?«

      »Ganz gewiß.«

      »Und wie war das gegenseitige Verhältnis der beiden Damen unter sich?«

      »Ein vortreffliches, soviel ich weiß; übrigens erlaube ich mir darüber kein Urteil.«

      »Soviel Sie wissen? Sollten Sie Grund zu einer anderen Annahme haben?«

      Thomas zögerte einen Augenblick; als aber sein Inquirent im Begriff stand, die Frage zu wiederholen, nahm er eine straffe Haltung an und antwortete: »Durchaus nicht, Herr!«

      Der Geschworene schien die Verschwiegenheit eines Dieners zu achten, welcher es ablehnt, sich über so delikate Angelegenheiten auszulassen. Er zog sich zufrieden auf seinen Platz zurück und gab durch eine Handbewegung zu verstehen, daß er nichts mehr zu sagen habe.

      Sogleich erhob sich der vorhin erwähnte, kleine Mann und fragte: »Um welche Zeit haben Sie heute morgen das Haus aufgeschlossen?«

      »Etwa um sechs Uhr.«

      »Hätte jemand nach dieser Zeit das Haus ohne Ihr Wissen verlassen können?«

      Thomas warf bei dieser Frage einen unruhigen Blick auf die anderen Mitglieder der Dienerschaft, antwortete aber schnell und ohne Rückhalt: »Ich glaube nicht, daß es jemandem möglich wäre, nach sechs Uhr aus dem Hause zu gehen, ohne daß ich es bemerkte oder die Köchin. Die Leute pflegen doch nicht am hellen, lichten Tage aus dem zweiten Stockwerke zu springen, außerdem schließt die Vorderthür mit einem solchen Geräusch, daß man es im ganzen Hause hört; wer aber durch die Hinterthür und den Garten hinausgehen will, der muß am Küchenfenster vorbei und würde jedenfalls von der Köchin bemerkt werden.«

      Diese Erklärung brachte bei allen Anwesenden einen sichtbaren Eindruck hervor. Man hatte das Haus verschlossen gefunden, und späterhin konnte es niemand verlassen haben; nach dem Mörder mußten wir also ganz in der Nähe suchen.

      Der Geschworene, welcher die letzte Frage gestellt hatte, schaute mit einer gewissen Selbstgefälligkeit ringsum; als er das von neuem erregte Interesse auf allen Gesichtern sah, mochte er die Wirkung seiner Frage nicht durch ein fortgesetztes Verhör abschwächen und nahm seinen Sitz wieder ein.

      Da niemand Lust zu haben schien, Thomas noch weiter zu inquirieren, verlor dieser ein wenig die Geduld, fragte jedoch respektvoll: »Wünscht einer der Herren noch etwas von mir zu wissen?«

      Als sich keiner meldete, warf er einen Blick der Erleichterung auf seine Kollegen und zog sich mit einer Hast und Befriedigung zurück, über die ich mir in jenem Moment keine Rechenschaft zu geben vermochte.

      Da jedoch der nächste Zeuge kein anderer war als mein neuer Bekannter von heute morgen, Harwell, der Geheim-Sekretär und die ›rechte Hand‹ des Ermordeten, wandte sich meine ganze Aufmerksamkeit diesem zu, so daß ich Thomas' auffälliges Benehmen vorläufig vergaß.

      Harwell trat mit der Ruhe und Entschiedenheit eines Mannes vor die Jury hin, der sich dessen bewußt ist, daß Leben oder Tod von seinen Worten abhängt. Die Ruhe und Würde