Schein und Schuld. Anna Katharine Green. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Katharine Green
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754178805
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offenbar aus einem anstoßenden Gemach einige Stunden nach seinem Ableben gebracht hatte. Die Wunde am Hinterkopfe war die einzige, die man am Körper entdeckte. Die Kugel hatte der Arzt herausgezogen und übergab sie jetzt den Geschworenen; sie war unten an der Basis der Schädeldecke in das Gehirn eingedrungen und hatte, einen augenblicklichen Tod herbeiführend, die medulla oblongata getroffen.

      Die Beschaffenheit des Loches in der Schädeldecke sowie die Richtung, welche die Kugel genommen hatte, schlossen jede Möglichkeit eines Selbstmordes aus, zumal das Aussehen des die Wunde umgebenden Haares die Thatsache feststellte, daß der Schuß in einer Entfernung von drei bis vier Fuß abgefeuert sein mußte. Zog man ferner den Winkel in Betracht, in welchem die Kugel die Hirnschale durchbohrt hatte, so war es offenbar, daß der Entseelte zur Zeit der That nicht nur in seinem Stuhl gesessen hatte, sondern auch in einer Beschäftigung begriffen war, bei der er das Haupt vorwärts gesenkt hielt. Wäre nämlich die Kugel in den Kopf eines aufrecht sitzenden Mannes in einem Winkel von 45° wie hier eingedrungen, so hätte der Mörder das Pistol in einer eigentümlichen Lage und sehr niedrig halten müssen; hatte jedoch der Getroffene beim Schreiben den Kopf vornüber geneigt, so konnte der Mörder mit gekrümmtem Ellenbogen den Schuß sehr leicht in der erwähnten Richtung abgeben.

      Als der Arzt über den Gesundheitszustand des Herrn Leavenworth befragt wurde, antwortete er, der Verstorbene habe sich, seiner Ansicht nach, zur Zeit seines Todes im besten körperlichen Wohlsein befunden; da er jedoch nicht Hausarzt gewesen sei, könne er sich ohne vorherige Untersuchung darüber nicht aussprechen. Eine Pistole habe er übrigens weder auf dem Fußboden des Zimmers, in welchem der Mord geschehen, noch in einer der anstoßenden Räumlichkeiten entdeckt. Aus den weiteren Aussagen des Arztes ging noch folgendes als unzweifelhaft hervor: Die Gruppierung des Tisches, des Stuhles und der dahinter liegenden Thür bewies, daß der Mörder unter den obwaltenden Umständen auf oder vor der Schwelle des Ganges gestanden haben mußte, der in das andere Zimmer führte. Da ferner die Kugel klein und aus einem gezogenen Lauf abgefeuert worden war und infolgedessen beim Durchdringen des Knochens leicht nach rechts oder links hätte abweichen können, erschien es dem Arzt als sicher, daß das Opfer keine Bewegung gemacht hatte, um aufzustehen oder den Kopf nach seinem Angreifer umzuwenden. Daraus ergab sich der zwingende Schluß, daß der Tritt des Thäters ein dem Ermordeten wohlbekannter, daß also die Anwesenheit des Meuchlers in dem Gemache keine ungewöhnliche oder unerwartete war.

      Nachdem der Arzt seine Aussage beendigt hatte, nahm der Coroner die vor ihm auf dem Tisch liegende Kugel, rollte sie einen Moment überlegend zwischen den Fingern, zog dann einen Bleistift aus der Tasche, warf rasch einige Zeilen auf ein Blatt Papier, rief einen Polizisten zu sich herein und übergab ihm dasselbe, indem er ihm zugleich im Flüsterton einen Befehl erteilte.

      Der Sicherheitsbeamte nahm das Billet in Empfang, sah mit einem verständnisvollen Aufblitzen des Auges die Adresse an, setzte sich den Hut auf und verließ den Saal. In der nächsten Minute verkündete ein lautschallendes ›Hurra‹ der Straßenjugend, daß er vor die Hausthür getreten war.

      Von meinem Sitze aus hatte ich die volle Aussicht durch das Eckfenster. Ich bemerkte, daß der Polizist einen Fiaker anrief, schnell hineinsprang und in der Richtung nach dem Broadway hinwegfuhr.

      Drittes Kapitel.

       Das Verhör.

      Als ich meine Aufmerksamkeit dem Verhör wieder zuwandte, sah ich, wie der Coroner durch sein goldenes Augenglas in ein Notizbuch blickte. »Ist der Hausmeister da?« fragte er.

      Sofort regte es sich unter der in der Ecke gruppierten Dienerschaft. Ein mit einem gewissen Selbstbewußtsein auftretender Irländer drängte sich aus der Mitte hervor und stellte sich den Geschworenen gegenüber.

      »Oh,« dachte ich bei mir, als ich die sorgfältig gepflegten Bartkoteletten, das sichere Auge und die achtungsvolle, aber keineswegs demütige Haltung des Mannes einer Prüfung unterwarf, »das ist ein Musterdiener und wahrscheinlich auch ein Musterzeuge!« Und darin sollte ich mich nicht getäuscht haben.

      Der Coroner, auf welchen er wie auf alle anderen im Saale einen günstigen Eindruck gemacht zu haben schien, schickte sich ohne Zögern an, ihn zu verhören. »Sie heißen Thomas Dougherty?«

      »Das ist mein Name, Herr.«

      »Wie lange haben Sie schon die gegenwärtige Stelle inne, Thomas?«

      »Es werden wohl so etwa zwei Jahre sein.«

      »Sie waren der erste, welcher Herrn Leavenworths Leiche entdeckte.«

      »Ja, Herr; ich und Herr Harwell.«

      »Wer ist Herr Harwell?«

      »Der Privat-Sekretär, der die Schreibereien für Herrn Leavenworth besorgte.«

      »Zu welcher Tages- oder Nachtzeit machten Sie jene Entdeckung?«

      »Gegen acht Uhr des Morgens.«

      »Und wo?«

      »Im Bibliothekzimmer, das mit dem Schlafgemach in Verbindung steht. Wir waren ängstlich, da der Herr gegen seine Gewohnheit nicht beim Frühstück erschien, und mußten die Thür aufbrechen.«

      »Sie war also verschlossen?«

      »Ja, Herr.«

      »Von innen?«

      »Das kann ich Ihnen nicht sagen; denn es steckte kein Schlüssel in der Thür.«

      »Wo lag Herr Leavenworth, als Sie ihn fanden?«

      »Er lag gar nicht, sondern saß an dem großen Tisch in der Mitte des Zimmers, den Rücken dem Schlafgemach zugekehrt, den Oberkörper nach vorn geneigt, den Kopf auf die Hände gesenkt.«

      »Wie war er gekleidet?«

      »In dem Anzuge, welchen er gestern bei Tisch trug.«

      »Waren Anzeichen eines vorhergegangenen Kampfes im Zimmer vorhanden?«

      »Nein, Herr.«

      »Lag eine Pistole auf dem Tisch oder auf dem Boden?«

      »Nein, Herr.«

      »Haben Sie Grund zu vermuten, daß ein Raubmord stattfand?«

      »Nein; Herrn Leavenworths Uhr und Portemonnaie befanden sich noch in seiner Tasche.«

      Auf die Frage, wer zur Zeit der Entdeckung im Hause anwesend war, antwortete er: »Die beiden Fräulein Mary und Eleonore Leavenworth, Herr Harwell, Kate, die Köchin, Molly, das Zimmermädchen, und ich.«

      »Sind das alle Mitglieder des Haushaltes?«

      »Ja, Herr.«

      »Wessen Amt ist es, allabendlich das Haus zu schließen?«

      »Das meinige.«

      »Haben Sie dieser Pflicht auch gestern genügt?«

      »Ja, wie immer.«

      »Und wer hat heute morgen die Thüren geöffnet?«

      »Ich selbst, Herr.«

      »Wie fanden Sie dieselben?«

      »Genau so, wie ich sie am Abend verlassen hatte.«

      »War kein Fenster, keine Thür offen? Besinnen Sie sich genau, bevor Sie antworten!«

      »Nein, Herr.«

      In diesem Moment hätte man das Fallen einer Nadel gehört, so bänglich still war es in der Versammlung geworden. Die Ueberzeugung, daß der Mörder, wer es nun auch sein mochte, das Haus nicht verlassen hatte, wenigstens nicht bevor es am Morgen geöffnet worden war, schien schwer auf den Gemütern aller Anwesenden zu lasten. Obgleich mir diese Thatsache bereits vorher bekannt gewesen, empfand ich doch eine gewisse Aufregung, als jetzt der Beweis dafür geliefert wurde, und indem ich das Gesicht des Hausmeisters scharf beobachtete, suchte ich nach irgend einem Zeichen in demselben, welches mir vielleicht verriete, ob er nicht, um eine Pflichtvernachlässigung zu verdecken, so nachdrücklich gesprochen habe. Aber der Ausdruck seiner Mienen war ebenso