Schein und Schuld. Anna Katharine Green. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Katharine Green
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754178805
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      Sie gab keine Antwort darauf.

      »Es ist durch Zeugenaussagen erhärtet worden, daß Sie vor der wirklichen Entdeckung des Mordes allein nach der Thür des Bibliothekzimmers gingen, wollen Sie mir wohl mitteilen, ob damals der Schlüssel im Schlosse steckte?«

      »Er steckte nicht darin.«

      »Sind Sie dessen gewiß?«

      »Vollkommen.«

      »Hatte jener Schlüssel vielleicht etwas Eigentümliches an sich in Größe oder Gestalt?«

      Sie bemühte sich, den plötzlichen Schreck zu unterdrücken, welchen diese Frage ihr verursachte, ließ ihre Blicke anscheinend unbefangen über die Gruppe der Dienstboten gleiten und murmelte endlich zitternd: »Er unterschied sich allerdings ein wenig von den andern.«

      »In welcher Beziehung?«

      »Der Griff war abgebrochen.«

      »Ah, meine Herren, der Griff war abgebrochen,« bemerkte der Coroner, sich an die Jury wendend; »Sie würden denselben also wiedererkennen, Fräulein Leavenworth, falls er Ihnen vorgezeigt würde?«

      Sie warf einen scheuen Blick auf ihn, als ob sie erwartete, den Schlüssel in seiner Hand zu sehen; da dies aber nicht der Fall war, so faßte sie wieder Mut und antwortete gleichgültig: »Das würde ich wohl, mein Herr.«

      »Gut denn,« versetzte er mit einer entlassenden Handbewegung; »das ist alles, meine Herren,« fügte er hinzu, sich an die Geschworenen wendend, »Sie haben die Aussagen der Mitglieder des Hauses gehört und –«

      In diesem Augenblick trat Gryce leise auf ihn zu und berührte seinen Arm. »Nur einen Moment,« sagte er und flüsterte dem Coroner einige Worte ins Ohr; dann zog er sich wieder zurück, schob die rechte Hand in die Brusttasche und heftete die Augen auf den Kronleuchter.

      Ich wagte kaum zu atmen. Hatte er dem Coroner die Worte wiederholt, die er oben in der Halle zufälligerweise vernommen?

      »Fräulein Leavenworth,« sagte der Coroner, sich ihr zuwendend, »Sie haben erklärt, Sie wären gestern abend nicht bei Ihrem Onkel gewesen, hätten sein Zimmer überhaupt nicht betreten; bleiben Sie bei dieser Behauptung stehen?«

      »Gewiß!«

      Er schaute auf Gryce, der aus seiner Brusttasche ein seltsam beschmutztes Taschentuch hervorzog.

      »Es ist merkwürdig,« fuhr er fort, »daß dieses Ihnen gehörige Tuch, welches der Beamte dort in der Hand hält, sich heute morgen in jenem Zimmer vorfand.«

      Während Marys Gesicht den Ausdruck tiefster Verzweiflung zeigte, preßte Eleonore die Lippen fest zusammen und erwiderte: »Ich kann darin nichts Auffallendes erblicken, ich war heute morgen in dem Zimmer.«

      »Und ließen es dort liegen?«

      Ein Zug der Entmutigung glitt über ihr Gesicht, und sie antwortete nicht.

      »So beschmutzt, wie es hier ist,« fuhr der Inquirent fort.

      »Ich weiß von keinem Schmutz. Was ist es? Lassen Sie mich sehen!«

      »Sogleich; doch zunächst wünschen wir zu erfahren, auf welche Weise es in das Zimmer Ihres Onkels gekommen ist.«

      »Das kann auf sehr verschiedene Arten geschehen sein. Es ist vielleicht schon einige Tage her, daß ich es dort ließ, ich erzählte Ihnen ja, daß ich das Zimmer öfters zu besuchen pflege; aber zunächst lassen Sie mich einmal nachsehen, ob es auch wirklich mein Taschentuch ist,« bat sie und streckte die Hand danach aus.

      »Dem muß wohl so sein; denn man sagte mir, Ihre Anfangsbuchstaben seien in eine der Ecken gestickt,« entgegnete er, während Gryce ihr das Tuch reichte.

      »Diese Schmutzflecken,« rief sie entsetzt, »sie sehen aus wie –«

      »Wie das, was sie in der That sind,« ergänzte der Coroner. »Wenn Sie jemals ein Pistol gereinigt haben, so müssen Sie es wissen, Fräulein Leavenworth.«

      Mit dem Ausdruck des tiefsten Abscheus schleuderte sie das Tuch aus der Hand und starrte es unverwandt an, als es auf dem Boden lag. »Ich weiß nichts davon, meine Herren,« sagte sie, »es ist allerdings mein Taschentuch; aber –« Sie sprach den Satz nicht aus, sondern wiederholte nur: »Ich weiß in der That nichts davon, meine Herren!«

      Damit war ihr Verhör geschlossen.

      Jetzt wurde Kate, die Köchin, abermals aufgerufen und gefragt, wann sie das Taschentuch zum letztenmal gewaschen habe.

      »Dieses Taschentuch? O, an irgend einem Tage der Woche.« stotterte sie und warf einen wie um Vergebung flehenden Blick auf ihre Herrin.

      »An welchem Tage?«

      »Ich wünschte, ich könnte es vergessen, Fräulein Eleonore, aber ich kann es nicht; es ist das einzige derartige Tuch im ganzen Hause; vorgestern erst habe ich es gewaschen.«

      »Wann bügelten Sie es?«

      »Gestern morgen,« kam es stockend über ihre Lippen.

      »Und wann haben Sie es auf Fräulein Leavenworths Zimmer gebracht?«

      Die Köchin fuhr sich mit dem Zipfel der Küchenschürze nach den Augen. »Gestern nachmittag mit der übrigen Wäsche, kurz vor dem Essen. Ich konnte wirklich nicht anders, Fräulein Eleonore,« schluchzte sie, »es ist die Wahrheit!«

      Nachdem der Coroner die Zeugin entlassen hatte, wandte er sich wieder an Eleonore mit der Frage, ob sie über diesen Punkt noch etwas hinzuzufügen oder zu erklären habe.

      Sie rang stumm die Hände, schüttelte langsam den Kopf und sank lautlos und ohnmächtig auf ihren Stuhl zurück.

      Während der nun folgenden Aufregung machte ich die Bemerkung, daß Mary ihrer Cousine nicht zu Hilfe kam, sondern es Molly und Kate überließ, ihre Herrin zum Bewußtsein zurück zu bringen. Nach wenigen Sekunden war dies insoweit geschehen, daß sie dieselbe nach ihrem Zimmer geleiten konnten. Als sie dies thaten, bemerkte ich, wie ein hochgewachsener Mann ihnen folgte.

      Hierauf trat ein peinliches Schweigen ein; dann erhob sich ein Geschworener und schlug vor, die Jury für heute zu vertagen. Dies schien mit den Wünschen des Coroners übereinzustimmen; denn er stand auf und setzte den Fortgang der Untersuchung auf 3 Uhr am nächsten Nachmittag fest, die Erwartung aussprechend, daß alsdann alle Geschworenen zur Stelle sein würden.

      Jetzt entfernten sich alle, und in wenigen Minuten war der Saal leer bis auf Mary Leavenworth, Gryce und mich.

      Neuntes Kapitel.

       Eine Entdeckung.

      Mary Leavenworth, welche sich bisher nicht von ihrem Platz gerührt hatte, wo alles, was vorging, unter ihrer unmittelbaren Beobachtung stand, wich, sobald man uns allein gelassen hatte, von meiner Seite, zog sich in eine entfernte Ecke zurück und überließ sich ihrem Kummer.

      Als ich meine Aufmerksamkeit auf Gryce richtete, sah ich ihn damit beschäftigt, seine Fingernägel zu zählen; doch ließ er bei meiner Annäherung, vielleicht überzeugt, daß er nicht mehr als die gewöhnliche Anzahl besitze, seine Hände sinken und begrüßte mich mit einem schwachen Lächeln, welches in Anbetracht der Umstände viel zu bedeutsam war, um angenehm zu sein.

      »Ich kann Sie zwar nicht tadeln,« begann ich, mich vor ihn hinstellend, »Sie hatten ein Recht, zu thun, was Sie für das Beste hielten. Aber wo steckte Ihr Herz? War sie nicht schon hinreichend gefährdet auch ohne das Beibringen jenes verwünschten Taschentuches? Ist etwa das Auffinden desselben, obwohl es mit Pulverspuren befleckt war, ein Beweis dafür, daß sie ihre Hand bei dem Morde im Spiele hatte?«

      »Herr Raymond,« antwortete er, »ich bin als Kriminalist und Detektiv beauftragt worden, diesen Fall zu untersuchen, und ich gedenke es zu thun!«

      »Selbstverständlich,« beeilte ich mich zu erwidern, »und ich bin der letzte, der Sie von Ihrer Pflicht abzubringen wünscht,