Schein und Schuld. Anna Katharine Green. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Katharine Green
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754178805
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stotterte sie.

      »War es länger als 10 Minuten?«

      »Ja.«

      »Länger als zwanzig?«

      »Vielleicht.« – Wie blaß ihr Gesicht war und wie sehr sie zitterte!

      »Fräulein Leavenworth! Nach dem Befunde erfolgte der Tod Ihres Oheims nicht sehr lange, nachdem Herr Harwell ihn verlassen hatte. War Ihre Thür offen, so konnten Sie nicht umhin, zu hören, wenn jemand in sein Zimmer ging, oder ein Pistol abgefeuert wurde, haben Sie etwas gehört?«

      »Ich habe keinen Lärm gehört, nein, gewiß nicht!«

      »Haben Sie nichts gehört?«

      »Keinen Pistolenschuß.«

      »Entschuldigen Sie meine Beharrlichkeit, Fräulein Leavenworth; aber haben Sie wirklich gar nichts gehört?«

      »Ich hörte eine Thür schließen.«

      »Welche Thür?«

      »Die zum Bibliothekzimmer führende.«

      »Wann?«

      »Das weiß ich nicht,« entgegnete sie, krampfhaft die Hände zusammenpressend, »ich kann es Ihnen nicht sagen. Warum legen Sie mir so viele Fragen vor?«

      Ich sprang auf: denn sie schwankte und war einer Ohnmacht nahe. Doch bevor ich sie erreichen konnte, hatte sie sich wieder aufgerichtet und ihre frühere Fassung wiedergewonnen.

      »Entschuldigen Sie.« sagte sie, »ich bin heute morgen etwas verwirrt; was war es doch, wonach Sie mich fragten?«

      »Ich wollte wissen,« entgegnete der Coroner, und seine Stimme wurde scharf, offenbar zeugte ihr gegenwärtiges Benehmen wider sie. »wann Sie das Bibliothekzimmer schließen hörten?«

      »Ich vermag nicht, die Zeit genau anzugeben; aber es war, nachdem Herr Harwell heraufgekommen war und ich meine eigene Thür geschlossen hatte.«

      »Einen Pistolenschuß haben Sie nicht gehört?«

      »Nein, mein Herr.«

      Der Coroner warf einen raschen Blick auf die Jury, und fast alle Geschworenen senkten die Augen zu Boden.

      »Fräulein Leavenworth, man hat uns berichtet, daß Hannah, eine der Dienerinnen, in der verflossenen Nacht zu Ihnen ging, um sich eine Arzenei zu holen. Ist sie bei Ihnen gewesen?«

      »Nein, mein Herr.«

      »Wann hörten Sie zuerst von ihrem seltsamen Verschwinden?«

      »Heute morgen vor dem Frühstück. Molly begegnete mir in der Halle und fragte mich, wo Hannah sei; nachdem wir einige Worte mit einander gewechselt hatten, kamen wir zu dem Schluß, daß sie das Haus heimlich verlassen haben müsse.«

      »Was dachten Sie sich, als Ihnen diese rätselhafte Flucht bekannt wurde?«

      »Ich wußte nicht, was ich davon denken sollte.«

      »Brachten Sie diesen Vorfall mit der Ermordung Ihres Onkels nicht in irgend welchen Zusammenhang?«

      »Ich wußte damals noch nichts von dem Morde.«

      »Aber nachher?«

      »Es mag mir wohl der Gedanke gekommen sein, die Verschwundene könnte von der That etwas gewußt haben; aber ich kann es jetzt nicht mehr mit Bestimmtheit behaupten.«

      »Können Sie mir etwas aus dem Vorleben des Mädchens erzählen?«

      »Nicht mehr, als Ihnen meine Cousine mitgeteilt hat.«

      »Wissen Sie nicht, warum sie des Abends so traurig war?«

      Ueber Eleonores Wange huschte ein zorniges Rot. »Nein mein Herr!« versetzte sie kühl abweisend, »ich bin nicht die Vertraute ihrer Geheimnisse gewesen.«

      »Dann können Sie uns wohl auch nicht sagen, wohin sie von hier aus gegangen sein mag?«

      »Gewiß nicht.«

      »Fräulein Leavenworth, wir sind genötigt, Ihnen noch eine andere Frage vorzulegen. Nach den Zeugenaussagen sind Sie es gewesen, welche den Befehl gab, die Leiche Ihres Oheims von der Stelle, wo sie gefunden worden war, in das nächste Zimmer zu schaffen.«

      Sie neigte zustimmend den Kopf.

      »Wissen Sie nicht, daß es ungesetzlich ist, den Körper eines tot angetroffenen Menschen aus der Lage zu rücken, in welcher er sich befand, ausgenommen in Gegenwart und auf Geheiß des zuständigen Beamten?«

      »In dieser Hinsicht habe ich nicht nach meinem Verstande, sondern nach meinem Gefühl gehandelt.«

      »Dann war es wohl auch Ihr Gefühl, welches Sie antrieb, an dem Tische, vor dem Ihr Oheim ermordet ward, stehen zu bleiben, anstatt der Leiche zu folgen und für deren Verbringung an einen geeigneten Platz zu sorgen, oder Sie waren vielleicht,« fuhr er mit erbarmungslosem Spott fort, »viel zu sehr damit beschäftigt, ein Stück Papier beiseite zu schaffen, statt an das zu denken, was die Sachlage von Ihnen gefordert hätte.«

      »Ein Stück Papier?« wiederholte sie, das Haupt entschlossen hebend, »wer behauptet, ich hätte ein Stück Papier vom Tisch genommen? Ich bin mir nicht bewußt, das gethan zu haben.«

      »Ein Zeuge hat beschworen, daß er sah, wie Sie sich über den Tisch beugten, auf welchem verschiedene Schriftstücke lagen, während eine Zeugin Ihnen wenige Minuten später in der Halle begegnete und bemerkte, daß Sie ein Stück Papier in die Tasche schoben. Daraus ergiebt sich die Berechtigung meines Schlusses, Fräulein Leavenworth.«

      Das war ein direkter Angriff, und aller Augen richteten sich auf Eleonore, um zu sehen, wie sie ihn aufnahm; aber ihre stolzen Lippen zuckten nicht einen Moment. »Sie haben den Schluß gezogen,« entgegnete sie kühl, »an Ihnen liegt es auch, die Thatsache zu beweisen.«

      Eine solche Antwort hatte niemand erwartet, selbst der Coroner war ein wenig verwirrt; doch bald faßte er sich wieder und sagte: »Fräulein Leavenworth, ich muß Sie noch einmal danach fragen, ob Sie vom Tisch etwas weggenommen haben oder nicht?«

      Sie kreuzte die Arme über die Brust. »Ich lehne es ab, Ihnen darauf eine Antwort zu erteilen,« sagte sie ruhig.

      »Verzeihen Sie mir,« versetzte er; »aber es ist nötig, daß Sie es thun.«

      »Sollte sich ein verdächtiges Blatt Papier in meinem Besitz vorfinden,« sprach sie, und ein Zug der Entschlossenheit legte sich um ihren Mund, »dann wird es für mich an der Zeit sein, zu erklären, auf welche Weise ich dazu gekommen bin.«

      Diese trotzige Weigerung schien den Coroner stutzig zu machen. »Begreifen Sie auch, was man aus Ihrer Weigerung schließen wird?«

      Sie senkte das Haupt. »Ich fürchte, ja,« antwortete sie.

      Gryce faßte mit der Hand nach der Troddel des Fenstervorhanges und spielte nachlässig mit derselben.

      »Und Sie bestehen auf Ihrer Weigerung?« fragte der Coroner.

      Sie verschmähte es gänzlich, darauf zu antworten, und auch der Coroner drang nicht mehr in sie.

      Es war jetzt allen klar geworden, daß Eleonore nicht nur auf ihre Verteidigung bedacht war, sondern daß sie ihre Lage durchaus begriff und gerüstet war, ihre Stellung zu behaupten. Selbst ihre Cousine, die bis jetzt ihre äußere Ruhe und Fassung bewahrt hatte, verriet eine starke, unbezwingbare Aufregung. Es schien ihr doch etwas anderes zu sein, selbst eine Anklage zu erheben, als es mit anzusehen, wie dieselbe sich auf den Gesichtern aller Anwesenden mehr oder minder deutlich zeigte.

      »Fräulein Leavenworth,« begann der Coroner wieder, seine Angriffsweise ändernd. »Sie hatten immer freien Zutritt zu den Gemächern Ihres Onkels, nicht wahr?«

      »Jawohl.«

      »Sie hätten also sein Zimmer spät in der Nacht betreten, es durchschreiten und sich an seine Seite stellen können, ohne ihn auch nur in einem Grade zu stören, daß er den Kopf nach Ihnen umgewandt hätte?«