Weiter unterstellte mir das Ding, dass mein Versuch, zu erklären, mein Kreislaufzusammenbruch würde an den Arbeitsbedingungen liegen, ein schlechtes Licht auf das Unternehmen und damit auf die dafür arbeitenden Menschen werfen würde. Und dies würde doch nicht in meinem Interesse liegen, da ich deswegen abgemahnt werden könnte. Darüber hinaus sei meine Äußerung ein Beleg für die von der KI aufgestellte These, meine Einstellung zur Arbeit sei destruktiv. Ich würde die Schuld für meine Unzulänglichkeiten auf andere schieben und damit einen negativen Einfluss auf die Moral der Belegschaft ausüben. Dies wiederum sei ein Hinweis auf meine mangelnde Teamfähigkeit, die ich dringend verbessern müsste. Und dann...«
»Genug, genug!«, rief Nicole. »Das ist ja furchtbar! Schlimmer als diese KI-Roboter sind höchstens noch diese genetisch aufgewerteten Asozialen. Damit du hinterher mit einem schlechten Gewissen den Raum verlässt, hat das Ding also, statt dir zu helfen, mit dir den Boden aufgewischt. Perfider geht es ja kaum.«
Robert senkte niedergeschlagen das Haupt. »Das hat es, und zwar gründlich. Ich habe jetzt einen Eintrag in der Personalakte. Sollte eine Stelle bei uns gestrichen werden, stehe ich jetzt also ganz oben auf der Liste.«
»Das tut mir leid, Robert. Das hast du nicht verdient. Ich weiß doch, dass dir deine Arbeit im Grunde gefällt.«
»Ja. Aber die machen es einem wirklich nicht leicht, seine Arbeit zu mögen.« Robert machte eine Pause und fügte hinzu: »Bald bin ich meinen Job los. Alles nur eine Frage der Zeit.«
Nicole versuchte daraufhin, ihm Mut zu machen, ohne zu ahnen, was Robert ihr eigentlich mit seinem letzten Satz andeuten wollte. »Und selbst wenn dieser Tag kommt, dann finden wir auch etwas anderes. Wir sind beileibe nicht die Einzigen, die sich in dieser Situation befinden. Jeden, der noch Arbeit hat, kann es treffen. Für jeden von uns kann morgen schon Schluss mit Lustig sein. Aber daran möchte ich nicht denken. Carpe diem, Robert. Mein Leitmotiv, wie du weißt. Daran habe ich mich immer gehalten, und ich werde das jetzt garantiert nicht ändern. Ich will mein Leben genießen und keinen düsteren Gedanken nachhängen. Und du solltest das auch nicht tun.«
Robert rutschte auf seinem Stuhl nervös hin und her. Am liebsten wäre er sofort rausgeplatzt mit seiner Neuigkeit über seine Erbschaft. Aber Bedingung für sein Arrangement mit den Klonherstellern war, dass er niemandem, absolut niemandem davon erzählen durfte. Nur in absoluten Ausnahmefällen, so hatte es sein Kontaktmann angedeutet, würden Klone für zwei Personen gleichzeitig produziert. Robert wollte daher vorsichtig herausfinden, ob Nicole bereit wäre, das hohe Risiko auf sich nehmen und ihm in die vermeintliche Freiheit zu folgen. Das Vermögen würde auch für zwei Klone reichen. Sie war die einzige Person auf dieser Erde, die er mitnehmen würde. Er konnte ihr jedoch keinen reinen Wein einschenken und musste sich behutsam an das Thema herantasten. Doch wie so oft im Leben kam es anders, als man es sich vorgestellt hatte.
»Ich hänge keinen negativen Gedanken hinterher«, begann er. »Ganz im Gegenteil.«
»Gut. Hast du schon bestellt?«, fragte sie, während sie über den Touchscreen ihr Essen schon geordert hatte.
Robert ignorierte ihre Frage und beugte sich über den Tisch zu ihr vor. »Nicole, kann ich dich mal was fragen?«
»Sicher. Warum denn nicht?«
»Was wäre, wenn du eine Möglichkeit hättest, das Land unerkannt zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen?«
Nicole lachte auf. »Du bist ein Träumer, Robert. Niemand außer der Geldelite kann dauerhaft das Land verlassen. Oder hast du im Lotto gewonnen?«
»Bitte lach nicht. Ich meine es ernst.«
»Und ich meine es auch ernst«, reagierte Nicole überraschend forsch. »Arbeit für Menschen ist auf der ganzen Welt knapp. Und überall versucht man, der Überbevölkerung Herr zu werden, mal mehr mal weniger rabiat. Wenn du Multimillionär bist, dann bist du in der Welt willkommen. Bist du aber ein Arbeitsmigrant aus Fleisch und Blut, dann bist du nur Ballast, den niemand braucht, und den niemand haben will.« Nicole nippte an ihrem Tee, der gerade von einem Serviceroboter an ihren Tisch geliefert worden war. Sie wirkte verärgert. »Das Anti-Migrationsabkommen, das alle Länder der Erde vor dreißig Jahren unterzeichnet haben, macht das Auswandern für unsereins praktisch unmöglich. Was immer du denkst, schlag es dir schnell wieder aus dem Kopf.«
»Aber es gibt noch Orte, an denen man eigenständig leben kann. Ohne Überwachung.«
»Ach ja? Wo? In der Antarktis?«
»Nein. Aber Kamtschatka zum Beispiel ist ein Ort, an dem man ungestört leben kann. Und seit den Folgen des Klimawandels kann man da sogar im Winter gut über die Runden kommen, man muss nur wissen, wie. Außerdem hat kein Land der Erde mehr Zugang zu der Halbinsel, weil es im Rahmen der neuen globalen Regulierungscharta international als Naturschutzgebiet ausgewiesen wurde. Keine Autos, keine Flugzeuge, keine Drohnen, keine Überwachungschips. Einer der letzten unberührten Orte der Welt, Nicole!«
Nicole fasste sich mit spitzen Fingern an die Stirn. »Robert, Robert! Das kannst du doch unmöglich ernst meinen. So ein Unsinn! Selbst wenn es dort so wundervoll sein sollte, wie du sagst, dann erklär mir mal, wie du dort überhaupt hinkommen willst? Jeder Schritt, den du machst, wird überwacht. Und zwar lückenlos von hier bis nach Asien zum Ochotskischen Meer. Du würdest keine hundert Kilometer weit kommen, bis man dich geschnappt hätte.«
»Aber es soll Leute geben, die es geschafft haben. Und ist man erst einmal dort, kann dich niemand mehr finden, weil kein Staat die Halbinsel betreten darf, ohne internationales Recht zu brechen.«
»Wenn es jemand geschafft haben sollte, dann deshalb, weil er offensichtlich ein Krimineller ist. Würdest du dort versteckt als Gesetzloser leben wollen, wissend, dass du nie wieder zurück kannst, außer wenn du direkt für den Rest deines Lebens ins Gefängnis wanderst? Ich könnte so nicht leben. Keine Sekunde!«
Ja, das würde ich wollen, dachte Robert, enttäuscht über Nicoles ablehnende Haltung. Er sagte aber nichts. Er hatte seine Antwort bekommen. Und diese war für ihn niederschmetternd. Nicole würde ihn nicht auf dieses Abenteuer begleiten wollen. Er hatte schon viel zu viel gesagt. Also musste er das Thema kappen. »Man wird ja nochmal träumen dürfen.«
»Sicher doch«, sagte Nicole. Ihre Gesichtszüge entspannten sich. Offensichtlich würde sie seine Worte schon bald vergessen haben. Sie wirkte jedenfalls nicht misstrauisch. Sie konnte ja auch nicht ahnen, dass Robert die finanziellen Mittel hatte, um sein riskantes Unterfangen in die Tat umzusetzen.
Nach ihrem gemeinsamen Essen erzählte Nicole noch ein paar Anekdoten aus ihrem Bekanntenkreis, aber Robert hörte gar nicht mehr zu. Auf einmal schien ihn der Mut verlassen zu haben, heimlich auszuwandern - ein Verbrechen zu begehen, wie Nicole es formulieren würde. Insgeheim hatte er sich immer vorgestellt, mit ihr zusammen ein neues Leben fernab der Heimat beginnen zu können. Und nun musste er sich der Realität stellen. Aber deshalb gleich aufgeben? Nein, dass wollte er auch nicht. Er würde es durchziehen. So eine Chance bekommt man nicht noch einmal.
Als Nicole nach ihrem Treffen zum ihm wie immer Tschüs sagte, da beschloss Robert, sich innerlich von ihr endgültig zu verabschieden, obwohl er sie noch ein paar weitere Wochen treffen würde, bis sein Klon fertig wäre.
»Tschüss, und pass auf dich auf«, sagte er zum Abschied an diesem Abend zu ihr. Etwas, das er noch nie zuvor zu ihr gesagt hatte. Aus diesem Grund hielt Nicole kurz inne und sah ihn fragend an. Sie entschied sich jedoch, nichts zu sagen, drehte sich um und ging. Robert blieb stehen und sah ihr hinterher. Der einzige Mensch auf der Welt, der ihm etwas bedeutete, trat aus seinem Leben. Nun hielt ihn nichts mehr hier. Sein Entschluss, den Klon in Auftrag zu geben, stand jetzt unverrückbar fest.
Jetzt gab es kein Zurück mehr.