Jin trat auf ihn zu, seine ruhige Präsenz kam vorsichtig näher. »Ich weiß, dass es schwer ist, ich weiß, wie sehr es schmerzt, wie allein und wie haltlos du dich fühlst. Gerade du, der dem Vater so nahestand. Er war alles, was du hattest. Aber du bist trotzdem sein Sohn, auch wenn er tot ist. Du bist ein Sohn Nohvas, ein Prinz Nohvas, und ein Magier. Es ist dein Krieg.«
Xaith schloss die Augen, kämpfte gegen seine Gefühle an. Bloß nicht auf dieses schwarze, tiefe Loch einlassen, das ihn von innen heraus zu verschlingen drohte.
»Er hat dich geliebt, Xaith, glaubst du wirklich, er wollte, dass du dein Leben vergeudest, indem du versuchst, ihm seinen Frieden zu stehlen?«
Xaith fuhr zu ihm herum, das Herz in der Brust schlug wild und sein Gesicht war eisig. »Rührende Geschichte, Jin.« Jin wich verwundert zurück. »Aber was mit deinem Vater geschehen ist, ist nur ein weiterer Grund für mich, das hier zu Ende zu bringen«, erklärte er entschlossen. »Mein Vater muss das ganze Chaos wieder richten.«
Ihm antwortete eine gerunzelte Stirn, die von Bedauern zeugte.
Xaith wandte sich ab. »Geh jetzt nach Hause, Jin.«
So leicht würde er sich nicht manipulieren lassen. Er wusste, dass er für verrückt gehalten wurde, er wusste um die Angst, die seine Forschungen in Nohva verursacht hatten, aber auch wenn sich die ganze Welt fürchtete und auch, wenn alle glaubten, er folgte einem Hirngespinst und experimentiere mit dämonischen Zaubern, er würde es schaffen! Und dann, da war er sicher, würde alles wieder gut werden.
Ja, genau das würde es, sein Vater würde alles wieder in Ordnung bringen. Nur er konnte das Chaos, das sein Tod verursachte, wieder richten.
König Desiderius musste wiederkehren, zu jedem erdenklichen Preis!
Er würde es ihnen beweisen, er würde keinen Untoten erschaffen, er würde seinen Vater wieder lebendig machen. Er musste, er musste einfach…
»Vaaks ist verschwunden.«
Ein zweites Mal brachte Jin ihn zum Stolpern, dieses Mal verursachte er zusätzlich noch ein Rauschen in Xaiths Ohren.
Hatte er richtig verstanden?
Langsam drehte er sich zu Jin um, der ihm ernst entgegenblickte und die Arme vor der flachen, schmalen Brust verschränkte. »Riath war der Letzte, der ihn gesehen hat.«
Xaith schüttelte den Kopf, ohne es zu bemerken. »Riath würde ihm nichts antun.«
»Bist du da sicher?« Jin senkte die Stimme, um seinen Worten noch mehr Grauen zu verleihen, er machte zwei Schritte auf Xaith zu, bis er wieder dicht unter seinem Gesicht stand. »War Riath nicht auch der Letzte, der Sarsar gesehen hat?« Neunmalklug hob er eine Augenbraue.
In Xaiths Schädel fing es an zu hämmern, als ob ein kleiner, fiese Bauarbeiter ein paar lose Nägel direkt in sein Gehirn trieb. Er blinzelte. »Riath würde nicht…«
»Sag du es mir, er ist dein Bruder.« Jin klang nicht herausfordernd, sein Tonfall war milde, sanft. Fast so als erwartete er, dass Xaith von selbst die Augen öffnete. Als ob er ihm im Schlaf ein zärtliches »wach auf« zuflüsterte, statt ihn rüde an der Schulter wachzurütteln. Da lag ureigenes Vertrauen in seinen zimtbraunen Augen, von dem Xaith nicht wusste, womit er es sich verdient hätte.
Sie waren keine Freunde.
»Er würde Vaaks nichts tun!«, betonte Xaith noch einmal strenger. »Vaaks ist keine Gefahr für ihn, Vaaks würde nie die Krone-«
»Der Adel drängte Wexmell, Vaaks zum Erben zu ernennen, weil er ein einfacher Mensch ist und seine Herrschaft dem Volk weniger Furcht einflößen würde.«
Xaith schüttelte dennoch den Kopf, obwohl er davon zum ersten Mal hörte und er zugeben musste, dass er plötzlich Angst verspürte. »Aber Vaaks wollte die Krone nie! Riath weiß das! Außerdem würde Wexmell Vaaks überleben!«
»Nicht, wenn er ermordet würde. Es sollte eine Versicherung dafür sein, falls Wexmell vor seiner Zeit stirbt. Wer Wexmells Erbe sein würde, sollte Vaaks vor ihm aus dem Leben scheiden, hätte dann entscheiden werden sollen, wenn Vaaks starb. Es sollte eine Notlösung sein, um die Gemüter zu beruhigen. Sie wollten sich Zeit erkaufen, auf Wexmell einzureden, damit er eigene Nachkommen zeugt.«
Xaith hörte zu, schüttelte aber unentwegt den Kopf. »Ich traue Riath einiges zu, aber keinen Brudermord.«
Jin schwieg einen Moment, schien seinen Gedanken folgen zu können. »Du meinst, er würde dich nicht töten, weil er dich liebt.« Dann fragte er ernst: »Und was ist mit Sarsar?«
Darauf wusste er keine Antwort, wollte nicht darüber nachdenken. Nicht mehr, nicht schon wieder. Es wäre gelogen, würde er behaupten, er hätte niemals darüber nachgedacht, aber… Er wollte es nicht glauben, nein. Riath war vieles. Aber ein Brudermörder? Nein.
»Komm nach Hause.« Jin flehte ihn an, griff nach Xaiths Hand, nahm sie sanft in seine zarten Finger und streckte sich ihm empor, nur um ihn eindringlich in die Drachenaugen zu blicken. »Bitte, Xaith!«
Seine Nähe wirkte erstickend. Langsam schüttelte Xaith den Kopf, trat zurück.
Jin wirkte verletzt, ließ ihn aber Abstand nehmen.
»Ich kann nicht«, hörte Xaith sich kraftlos sagen, blickte zu Siderius, der ihr Gespräch verfolgt hatte und neben Baron stand, während er den hungrigen Bengel auf dem Arm hopsen ließ.
»Kehr um, Jin«, es war sein letztes Wort, »wage nicht, mir noch einmal zu folgen. Ich komme nicht ohne ihn nach Hause, denn es ist kein Zuhause ohne ihn.«
Als er an Jin vorbeiging und ihn stehen ließ, fielen dessen Schultern wieder herab, er gab sich geschlagen und sah ihnen nur noch wortlos nach, während sie ihm den Rücken kehrten.
»Wir können ihn doch nicht allein lassen!«, flüsterte Siderius Xaith zu und blickte bemitleidend zurück zu Jin, der einfach dastand und ihnen stumm nachsah.
»Er kam allein her, er findet allein zurück.« Xaith riss Baron an den Zügeln herum und verschwand im Dickicht.
Genug von der Vergangenheit.
Genug von allem.
~10~
Tropfnass stieg er über die Felsen aus dem smaragdgrünen See, keuchend und mit zitternden, überanstrengten Muskeln. Hinter ihm breitete sich ein dunkelroter Fleck flächenbrandartig im Wasser aus. Eine Blutlache, die einen perfekten und immer größer werdenden Kreis um den frischen Kadaver bildete.
Riath zog sich auf einen braunen Felsen, der vom Schlick schleimig war, und schnitt sich beinahe an den scharfen Kanten. Schwer atmend ließ er sich auf den Schenkel fallen, drehte sein Gewicht schließlich auf den nackten Hintern und strich sich die schweren, nassen Strähnen seiner langen, blonden Haare aus dem tropfenden Gesicht.
»Scheiße.« Er fluchte nicht, er musste lachen, aus purer Freude. Glücksgefühle prickelten warm durch seine Venen und der Triumph floss heiß durch seinen Leib. Wie ein Sonnenstrahl im Winter.
So ein Kampf gegen einen Alligator hatte doch etwas Belebendes, vor allem wenn man sich der Bestie nackt und nur mit den blanken Händen stellte.
Nicht, dass er es drauf angelegt hätte, als er zum Baden hergekommen war, das Drecksvieh hatte ihn aus dem Hinterhalt angegriffen und es war nur Riaths schnellen Reflexen zu verdanken, dass er dem Maul des Alligators entkommen war.
Es war ein brutaler Kampf unter Wasser gewesen, der damit geendet war, dass Riath seine Fänge in die Kehle des Alligators geschlagen und ihn fast bis zur Schwanzspitze aufgerissen hatte.
Riath blutete aus einigen offenen Wunden an Waden, Schenkeln und Armen, doch viel stärker als das Brennen der tiefen Kratzer, waren die Prellungen, die ihm das Scheißvieh zugefügt hatte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt er sich die angeknacksten Rippen, doch lachte er dennoch, denn er hatte obsiegt. Gegen einen Alligator.