Siderius‘ Augen musterten Xaith, als wüsste er noch immer nicht so recht, ob er verängstigt, besorgt oder einfach nur angewidert war.
Vielleicht täuschte Xaith sich aber auch wieder nur und verwechselte kindliche Faszination mit Argwohn.
»Lass mich jetzt meditieren«, sagte er, »ich muss meinen Geist schlafen lassen.« Tatsächlich wollte er nur seine Konzentration bündeln und die Umgebung mit seiner Magie ertasten, um jede Bewegung, und sei es auch nur das Einatmen einer Maus, zu entlarven.
Der rauschende Wind, der sie fast taub machte, der trommelnde Regen, das Donnergrollen über ihren Köpfen und das hin und wieder zuckende, grelle Licht der Blitze drangen in den Hintergrund, selbst die Luftfeuchtigkeit, das Tröpfeln von den Rändern der Plane und Siderius` leises Summen verstummten, als würde er in einen tiefen, schwarzen Traum verfallen, während er sich von sich selbst löste und über die Kronen des Urwaldes schwebte.
Er wurde selbst zum Wind, der die Richtung bestimmte, fühlte jeden Widerstand, jeden Baum, jedes zarte Pflänzchen, jedes Blatt. Hörte jedes Wispern, jedes Wimmern, jedes Jaulen. Der Sturm war gewaltig, wütend, doch der Wald hielt ihm stand, beschützte seine Bewohner.
Und weit und breit nichts als Pflanzen und Tiere, keine Verfolger, keine Monster, keine Geister, alles war friedlich in ihrer Umgebung.
Seltsam, dabei hatte Xaith gegen Mittag deutlich eine starke Präsenz gespürt, etwas Kaltes und Hartes, nur noch halb Lebendiges. Doch die Schergen seines Bruders waren jetzt nicht mehr auffindbar, vielleicht wegen des Sturms, denn auch wenn sie nur noch dem Willen ihres Gebieters gehorchten, konnten auch sie von einem Blitz getroffen oder von einem Ast erschlagen werden.
Sie waren vorerst sicher, hatten vielleicht sogar einen kleinen Vorsprung.
Als er die Augen wieder öffnet, war der Sturm bereits ein Stück weitergezogen und sie bekamen den regenreichen Rand ab. Es plätscherte, rauschte und tröpfelte im Urwald, Xaiths schwarze Kleider waren klamm, sein rabenfedernschwarzes Haar, das er zu einem unordentlichen Bündel im Nacken zusammengebunden hatte, kräuselte sich um sein langes, scharfkantiges Gesicht.
Blinzelnd öffnete er die Lider, seine magische Kugel spendete noch immer Licht, ein Strudel aus orangegelben Feuer und schwarzem Nebel. Die Beschwörung kostete ihm keine Macht auf Zeit, es war ein einfacher Zauber, in den er etwas Energie steckte, die wie eine Kerze nach und nach abbrannte.
Siderius hatte nicht bemerkt, dass Xaith wach war. Er saß ihm gegenüber unter der Lichtkugel im Schneidersitz, hatte sich ein Stück nach vorne gelehnt und hielt den Bengel unter das Gesicht, mit dem er lustige Fratzen zog und das Kind zum Lachen und Quieken brachte. Er streckte die Zunge raus, machte Furzgeräusche, was den Kleinen frohlocken ließ. Das Kind strampelte munter, kräftig, sodass Siderius Mühen hatte, ihn nicht fallen zulassen.
Er lachte auch, ein schönes Lachen, offen und freundlich, voller unschuldigem Glück. Der Junge war sehr liebevoll mit dem Kind, vorsichtig und bedacht, fast wie ein besorgter großer Bruder.
Xaith spürte einen Stich im Herzen, wenn er die beiden so sah. Obwohl er und seine Brüder gleichalt waren, da sie alle von verschiedenen Hexen geboren worden waren, hatte es eine Art Rangordnung gegeben, bei der Riath sich eindeutig als Ältester aufgespielt hatte, als der Retter und Beschützer.
Das hatte sich bis heute nicht verändert, auch wenn dieser Dummkopf stets den radikalen Weg wählte, um zu schützen, was er liebte. Aber es hatte auch eine Zeit in ihrer Kindheit gegeben, da Xaith ihn beschützt hatte. Als er ihn nachts zu sich ins Bett geholt und ihn vor schlimmen Träumen beschützt hatte.
Waren es Träume gewesen?
Oder waren die Monster, die Riath sah, schon immer real gewesen? Hatten sie sich zu ihm hingezogen gefühlt, wie er sich zu ihnen?
Er kannte Riath besser als alle anderen, wusste um jeden Winkel seines Herzens, kannte seine Schwächen, seine Ängste und ebenso seine harten und kalten Seiten. Und eines wusste er heute besser als jemals zuvor, sein Bruder trug keine Fassade, niemals, er war all das, was er nach außen hin zeigte, wie die zahlreichen Seiten eines Würfels. Und man wusste nie, welche als nächste fiel.
Genau das machte ihn ja erst so unberechenbar, denn man konnte nie erraten, was Riath gerade bewegte und wonach er strebte, es konnte sich von einem auf den anderen Tag ändern.
Xaith machte sich nicht bemerkbar, kostete den Moment aus, um seine beiden Mitreisenden – seine Schützlinge – zu beobachten. Er hatte ein warmes Gefühl in der Brust, auch als Siderius` zartes Gesicht ernst wurde und er das Kind mit einem nachdenklichen Blick eingehend betrachtete, als könnte er nicht glauben, wie schön es war.
Xaith hingegen betrachtete nur ihn, diesen jungen Burschen mit den abgefressenen Haarspitzen, die ihm über Ohren und Nacken gewuchert waren, der immer diese dreckige Fischermütze trug und seine vergilbten Sachen. Als Dieb und Schankjunge hatte er ihn kennen gelernt, ihn immer im Hinterhof dieser einen Taverne angetroffen, wo er – nachdem er auf allen vieren Kotze und Pisse von den Böden gewischt hatte – den Müll durchsuchen durfte, ohne davongejagt zu werden.
Irgendwann hatte Xaith ihm ein Stück Brot gegeben. Dann an seinen Tisch eingeladen. Ihn um Informationen, Schleichwege und Geflüster der Gäste gebeten. Immer häufiger war Siderius ihm »zufällig« in der fremden Stadt begegnet, bis zu dem Moment, als er von Wachen verfolgt, von einem Pfeil durchbohrt, in seine Arme gestolpert war und der Junge ihn in seinem Versteck in der Kanalisation aufgepäppelt hatte.
»Du schuldest mir was«, hatte er gesagt, als Xaith gehen wollte, »nimm mich mit, ich werde ein guter Diener sein.«
Er hatte mit sich gehadert, doch schließlich nachgegeben. Aus Dankbarkeit. Und weil dieser Junge ihn ein wenig an sich erinnerte, so allein, so missverstanden. Xaith wollte ihm helfen, angefangen mit einem passenden Namen.
Manchmal, dachte er voll Schwermut, ging es eben nicht um gegenseitigen Nutzen, sondern schlicht um Sympathie, so hirnrissig es auch klang. Er mochte den Jungen.
Vielleicht weil er die einzige Gesellschaft war, die er kannte, die ihn nicht wegen seiner Narben schief ansah. Er hatte es tatsächlich niemals auch nur angesprochen oder – soweit Xaith das beurteilen konnte – sie überhaupt wahrgenommen. Die meisten Leute sahen ihn entweder angewidert oder bemitleidend an, keines davon wollte er sehen.
»Du bist wach.«
Xaith richtete den Blick, der grübelnd abgeschweift war, zurück auf Siderius` blutjunges Gesicht. »Ja.«
»Ausgeruht?«
Nein. »Ja.«
Siderius nickte, barg das Bündel mit dem Kind in der Armbeuge und wühlte dann in einer Tasche. Er bot Xaith einen Streifen Fleisch an, doch dieser schüttelte den Kopf.
Sein Hunger bezog sich wie immer auf etwas völlig anderes. Verdammtes Drachenblut in ihm. Doch zum Glück befanden sie sich in den Wintermonaten, auch wenn man sie in Elkanasai nicht spüren konnte, so wusste sein Paarungstrieb, dass es Zeit war, sich auszuruhen. Dennoch war ihm viel zu oft innerlich warm, er war unruhig und rutschte stets hin und her, in seiner Brust kitzelte der Blutdurst, manchmal wollte er sich das Herz aus der Brust reißen, um nichts mehr zu spüren, oder sich schlicht die Genitalien absäbeln. Aber so masochistisch war er dann doch nicht veranlagt.
Wobei es leichter wurde, je mehr Jahre ins Land gingen. Kacey hatte es ihm bewiesen, dass er mehr Kontrolle über sich selbst besaß, als er sich jemals zugetraut hätte.
Allein dafür war er dankbar, und…
»Du denkst wieder an ihn.«
Xaith