Die Greener mussten ihre neue Welt nun im Detail erkunden. Notgedrungen beschränkten sie sich zunächst auf einen relativ kleinen Bereich, denn ihre Mittel waren begrenzt. Vor allem galt es festzustellen, welche Pflanzen und Tiere nutzbar oder gefährlich waren. Auch wenn die Anhänger von John Winkler mit der Natur leben und möglichst wenig Technik benutzen wollten, so waren sie doch längst keine Narren. Sie besaßen ein kompaktes Hochleistungslabor, eine Reihe tragbarer Analysegeräte und neben diversen Werkzeugen auch zwei Dutzend wirksamer Waffen.
Die Greener lernten auf die harte Tour, dass die Beeren des Braan-Strauches sehr schmackhaft waren, die Berührung der Blätter hingegen eine üble allergische Reaktion auslöste. Die gefährlich aussehenden Scheck-Bären erwiesen sich als scheu und harmlos, die niedlichen Fellschleicher hingegen als gefährliche und angriffslustige Plage. Als mehrere Kinder von Rudeln angegriffen wurden, warfen die Siedler einen ihrer Grundsätze über Bord und rotteten die Tiere in der Umgebung von Sanktum ohne Erbarmen aus.
Eine dem Rind ähnliche Rasse erwies sich als Glücksfall. Die Tiere besaßen vier schlanke Vorderläufe und ein paar muskulöser Hinterbeine, dazu ein einzelnes Horn auf der Stirn, welches sich in sechs unregelmäßige Enden teilte, an denen man die einzelnen Individuen einer Gruppe gut unterscheiden konnte. Die Herdentiere ließen sich willig domestizieren, waren Lieferanten eines milchähnlichen Saftes, vorzügliche Zug- und Gespanntiere und lieferten, in den seltenen Fällen ihrer Schlachtung, ein vorzügliches Fleisch.
Der Schwerpunkt der Ernährung beruhte jedoch eindeutig auf pflanzlicher Basis und hier stießen die Greener auf ein unerwartetes Problem. Zwar gab es eine ganze Reihe guter Vitaminträger, doch es fehlte dem menschlichen Organismus ein Enzym, um sich diese Vitamine nutzbar zu machen. Das Labor lieferte ein Nahrungsergänzungsmittel, doch das konnte nur eine vorübergehende Lösung sein, denn die Kolonie sollte ja wachsen und die Kapazitäten zur künstlichen Herstellung des Enzyms waren beschränkt.
Bernd Rau hoffte zu der endgültigen Lösung beizutragen. In einer der wöchentlichen Versammlungen, die es in der Stadthalle der Siedlung gab, hatte Doktor Rickles erklärt, dass die Braunbeere das erforderliche Enzym beinhaltete, wenn auch in sehr bescheidenem Ausmaß. Diese Information rief gemischte Gefühle hervor. Erleichterung, dass es eine natürliche Quelle des Enzyms gab und zugleich Enttäuschung, denn ausgerechnet die Braunbeere hatte einen ausgeprägt widerlichen Geschmack.
Bernd hatte sich der ältesten Methode der Genmanipulation erinnert, die so viele Jahrhunderte auf der Erde praktiziert wurde: Das Pfropfen. Dabei wurde der Stamm einer Pflanze eingekerbt und der Trieb einer anderen an jene Stelle eingefügt, in der Hoffung, das beides miteinander verwuchs und ein Hybrid entstand, der Eigenschaften beider Pflanzen in sich vereinte. Auf der Erde waren so zahllose Obst- und Kartoffelsorten entstanden.
Bernd hatte vor zwei Jahren die Triebe von Braunbeeren mit jener Kartoffelsorte kombiniert, die auf Greenland heimisch war. Im vergangenen Jahr brachte er die erste kleine Ernte ein. Die von ihm benannte „Bertoffel“ war kein Genuss, löste beim Essen aber wenigstens keinen spontanen Brechreiz aus. Er war somit auf dem richtigen Weg und so hatte er bei der letzten Aussaat eine dritte Pflanze hinzugefügt.
Jetzt stand die diesjährige Ernte unmittelbar bevor und der Farmer inspizierte den Acker, auf dem seine Hoffnung beruhte, mit freudiger Erwartung und zugleich Skepsis. Bernd bückte sich und betastete die kleinen Erhebungen innerhalb einer der Furchen. Die Kolonie brauchte die Vitaminfrucht als wichtige Nahrungsergänzung und er wiederum brauchte die Einnahmen aus dem Verkauf. Vor einigen Tagen hatte er ein paar der ersten reifen Exemplare an das Labor der Stadt geschickt und rechnete jederzeit mit den Ergebnissen.
Er richtete sich seufzend auf und warf einen Rundblick über seine kleine Farm, die ein Stück außerhalb von Sanktum lag.
John Winkler hatte eine fast zweihundert Kilometer durchmessende Ebene zur Gründung von Sanktum ausgewählt. Es gab zwei große Flüsse und mehrere Bachläufe, ausgedehnte Wälder und weite Ebenen, die sich für Ackerbau und Viehzucht eigneten. Vor allem jedoch gab es ein ringförmiges Gebirge, mit nur wenigen Schluchten und Pässen, die eine Verbindung zum Rest des Planeten herstellten. Wahrscheinlich lag die Siedlung inmitten eines Vulkankraters, der vor Millionen von Jahren entstanden und inzwischen aufgefüllt war. Ein natürlicher Wall und Schutz, denn noch wusste man nicht genau, welche Gefahren die neue Welt zu bieten hatte. Die Stadt lag in der Nähe des westlichen Gebirgsrandes.
Bernd Rau hatte die Farm rund zwanzig Kilometer westlich von Sanktum angelegt. An einem ganz sanft ansteigenden Hang, der fast den gesamten Tag über Sonne garantierte. Bernd war dankbar für die Wahl der Lage der Stadt, denn mit vulkanischem Boden vermischte Erde war stets besonders fruchtbar.
Die Farm bestand aus dem kleinen Haus für die kleine Familie, einer großen Scheune für die Geräte und einem auf kurzen Säulen stehenden langgestreckten Silo für die eingebrachte Ernte. Wie auf vielen anderen Welten bewährte sich der „Hochbau“ auf Stelzen, der auf Greenland mit gebrannten Ziegeln durchgeführt wurde. Auf diese Weise wurden manche Nager und einige der teilweise faustgroßen Insekten von Greenland daran gehindert, sich an den Erträgen der Farm gütlich zu tun. Einen weiteren Schutz vor Schädlingen boten ausgerechnet die Beeren des Braan-Strauches oder vielmehr deren Saft. Vermied man den direkten Kontakt mit den allergieauslösenden Früchten und verrieb ihren Saft an den Ziegeln der stützenden Unterbauten, so wirkte dieser offensichtlich abschreckend.
Die Gebäude auf Greenland standen allesamt auf diesen kurzen Stützen und verfügten daher über keine Kellerräume. Auf den Ziegeln lag eine Platte aus Plas-Beton, über welcher dann der eigentliche Bau aus Holz errichtet war. Die einzigen Bauwerke mit Räumen zu ebener Erde waren bislang die Rettungs- und die Polizei-Wache der Constables. Vielleicht würde sich dies ändern, wenn man eine zuverlässige Abschreckung für alle Schädlinge entdeckt hatte.
Bernd Rau hatte, wie alle Siedler auf Greenland, großzügig und für die Zukunft geplant. Die Kolonie sollte wachsen und musste dies auch, sollte sie überlebensfähig sein. Knapp eintausend Menschen waren auf dem Planeten gelandet und innerhalb von nur fünf Jahren war ihre Zahl auf fünfzehnhundert angewachsen. Einige der Frauen waren schon während der Ankunft schwanger gewesen, doch die weiblichen Siedler waren, gegenüber den männlichen, noch immer deutlich in der Unterzahl. Die Gemeinschaft war sich daher früh darüber im Klaren gewesen, dass für die nähere Zukunft nur die Drei-Ehe in Frage kam. Die meisten Frauen hatten daher einen Erst- und Zweit-Ehemann. Bernd war der Erst-Ehemann seiner Frau Kara und daher im besonderen Maße für sie verantwortlich. Er genoss das Privileg sie als seine Frau bezeichnen zu können und den Alltag mit ihr zu verbringen, womit er dafür Sorge tragen musste, dass sie und ihre Kinder ein Zuhause und eine gute Versorgung besaßen. Bernd und Kara hatten einen gemeinsamen Sohn, Jake, und Kara war erneut schwanger, diesmal allerdings mit dem Kind des Zweit-Ehemannes Raul. Entsprechend war das Haus für künftige Kinder geplant und diesen das gesamte Dachgeschoss vorbehalten.
Die drei Gebäude standen im offenen Geviert, die Öffnung dem Tal und der Stadt zugewandt. Man konnte Sanktum nicht direkt sehen, da ein Waldstück dazwischen lag, aber jenseits der Bäume stiegen an einigen Stellen dünne Rauchfahnen empor. Viele Siedler kochten und heizten noch mit Holz, da es derzeit noch nicht genug Solar- und Windkraftanlagen gab. Die beiden Getreidemühlen am Ufer des kleinen Flusses, der an Sanktum vorbei floss, nutzten hingegen die Wasserkraft und speisten den überzähligen Strom in das Netz der Siedlung.
Bernd störte es nicht, dass Kara das Kind eines anderen Mannes unter dem Herzen trug. Es war eine absolute Notwendigkeit, denn ohne genetische Vielfalt würde es in der Kolonie rasch zu degenerativen Problemen kommen. Die Greenlander verfügten daher zusätzlich über eine genetische Bank mit einigen zehntausend Samenspenden, auf die man gegebenenfalls zurückgreifen konnte. Die meisten besaßen