Treten wir nunmehr in den Garten des ehemaligen Kreuzganges, welcher seiner Zeit der Kirchhof der Stiftsherren war, so finden wir in dem Bogenfelde einer kleinen, jetzt vermauerten Pforte eine schöne allegorische Darstellung. In der Mitte des Tympanums steht die würdige Gestalt eines Bischofs mit dem Stabe in der Hand. Ihm zur Linken wird ein Schiff von hochgehenden Wellen fortgerissen und die darin befindlichen Personen sind in angstvollem Gebete begriffen. Um den Mast schwebt ein Teufel, der Schiff und Leute in das Verderben zur reißen droht. Zur rechten Seite des Bischofs befinden sich drei zu ihm um Hilfe flehende Menschen, nach denen eine rohe Gestalt ein Messer zuckt und einen der flehenden bereits bei den Haaren ergriffen hat. Der Bischof fängt jedoch das Messer mit der Hand auf. – Eine spezielle Deutung dieser Allegorie vermögen wir nicht zu geben, da sie sich vermuthlich auf einen besonderen Fall der Wormser Bischofsgeschichte bezieht, wozu wir den Schlüssel bis jetzt nicht finden konnten. Die allgemeine Deutung überlassen wir dem Leser.
Gehen wir einige Schritte weiter, so gelangen wir zu den bereits genannten Resten der Mauritiuskapelle (1033). Es sind dieß drei Reihen über einander gestellter, auf gedrungenen Halbsäulen ruhender Blendarkaden im kräftigsten Rundbogenstyle, nebst einer vierten aus kleineren Blenden bestehenden Bogenreihe. Die Ornamentik der Capitäle ist fein, selbstständig und höchst charakteristisch und jedes derselben von neuer Erfindung. Einige der Capitäle sind in schlichter Ausbauchung zugehauen. Leider sind diese Reste zum Theil gewaltsam zerschlagen, theils noch unter dem Mauerwerk des ehemaligen Kreuzganges Versteckt.
Verlassen wir den Garten, so befinden wir uns an dem 1181 erbauten westlichen oder Lorenzichore.
Dieser, wie bereits erwähnt, am meisten baufällige Theil, bildet mit seiner schönen, achteckigen Kuppel, flankirt von zwei gewaltigen Thürmen, wohl den interessantesten Theil des Domes. Die Trommel des Kuppelbaues, die beiden Thürme, die Chornische sind sämmtlich von den zierlichen Gallereien durchbrochen, die sich uns als Säulenarkaden von den schönsten Verhältnissen darstellen. Die Säulenfüße wachsen zu hervorstehenden, bald possierlichen, bald fratzenhaften Menschen- und Thiergestalten aus, die uns aus der Höhe von allen Seiten entgegen grinzen. Die Steinmasse der im Achteck configurirten Apsis ist durch reiche, fast maurisch decorirte Blenden zierlich vertheilt und zeigt uns nebst drei kleineren, eine große reichgegliederte Rosette, - das Ganze in der schönsten Uebereinstimmung.
Schließlich verdient noch ein von der Südseite in den Domgarten führendes, früher zu dem Kreuzgange gehöriges Portal ganz besonderer Erwähnung, welches im schönsten romanischen Style und in den edelsten Profilirungen und Ornamenten entworfen ist.
Nachdem wir so den Dom in seinen äußeren Theilen kennen gelernt haben, treten wir in das Innere desselben.
Der Eindruck des Gewaltigen und Majestätischen, welchen uns der Dom in seiner ganzen äußeren Totaliät gemacht hat, steigert sich bei der Betretung des Inneren bis zur bewältigsten Erhabenheit. Zwei und zwanzig mächtige, viereckige Pfeiler, abwechselnd mit Vorsprung und Halbsäule versehen, tragen die Ueberspannung des hohen Schiffes, zwischen welcher die Kreuzgewölbe kühn eingesprengt sind. Die Pfeiler und Wände, frei von aller Tünche und von keinen Zierrathen und keinen Denkmälern verstellt, zeigen uns den nackten, rothen Quaderstein, was zur Erhöhung des Totaleindrucks wesentlich beiträgt. Und in der That, wenn wir die Treppen des hohen Chores hinaufsteigen, und sehen in erschütternder Erhabenheit die Ostkuppel sich uns zu Häupten wölben und die Kreuzflügel zu beiden Seiten sich mächtig ausspannen, und wenn dann die Abendsonne durch die gemalten Fenster des Westchores hereinbricht und die ernste kraftvolle, imponirende Einfachheit der Pfeilerarkaden beleuchtet und den ruhigen, gemessenen Schwung der Verbindungsbogen, das würdevolle Aufsteigen der Halbsäulen, um als sichere Träger der Gurt- und Kreuzbogen zu dienen: so möchten wohl wenige andere Tempel genannt werden können, die in so geheimnisvoller und ergreifender Weise unser ganzes Gemüth zu dem ewigen Gotte hinanführen.
Eine Krypta scheint der Wormser Dom nicht besessen zu haben. Wiewohl wir urkundlich wissen (Schannat I. c. T. II. p. 49 und 51.), daß die Eltern und Voreltern Kaiser Konrads des Saliers ein gemeinschaftliches Begräbnis im Dome bei dem Altare zum h. Kreuze hatten; daß ferner ein Sohn Konrads, Wolfram, daselbst beisetzt wurde (Wiegand I. c.); daß Bischof Azzecho im Jahre 1034 bei dieser Gruft einen Altar errichten ließ, an welchem alljährlich Gebete und Meßopfer zum Heile des Kaisers und seiner Gemahlin Gisela dargebracht werden sollten: So deutet doch alles darauf hin, daß unter diesem Begräbnisse ein schlichtes Gewölbe zu verstehen sei, welches jedoch bis heute nicht wieder aufgefunden wurde. – Ebenso hatten die Gebeine der hh. Märtyrer Justinus und Stachäus ihre Ruhestätte unter dem Hochaltare und wurden bei Gelegenheit der Einweihung des Domes im Jahre 1181, noch wohl erhalten, in das Mittelschiff der Kirche versetzt, wo sie, wie ein Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts vermuthet, noch ruhen sollen. – Die Bischöfe hatten ihre Ruhestätte an verschiedene Stellen, bald im östlichen, bald im westlichen Chore, unter der Kuppel und in den Kapellen des Domes; auch bestimmten sie nicht selten Klöster zu ihrem Begräbnisplatze.
Doch glauben wir darauf aufmerksam machen zu sollen, daß im vierten Quadrate an der Wand des südlichen Seitenschiffes sich eine, jetzt vermauerte, in ihrer Fortsetzung unter den Boden gehende, frühromanische Pforte und daneben ein Fenster befinden, welche unzweifelhaft nach einer unterirdischen Kirche oder nach den Begräbnisräumen des älteren Kreuzganges führten. Ueber der Leibung des Bogens ist das Brustbild eines Bischofs angebracht mit einem aufgeschlagenen Buche in der Hand, dessen Inschrift wir jedoch nicht zu entziffern mögen. Wenn wir das folgende Quadrat des Seitenschiffes genauer untersuchen, so finden wir damit correspondirend und mit vollständig symetrischen Verhältnissen, unter dem Verputze ebenfalls Pforte und Fenster.
Auffallend muß es jedoch immerhin bleiben, daß im ganzen Dome auch keine Spur von Gräbern zu entdecken ist und daß sich weder von der kaiserlichen Ahnengruft, noch von den Heiligen- oder Bischofsgräbern irgendwelche Tradition erhalten hat. – Es ist überhaupt zu verwundern, wie die bedeutendsten geschichtlichen Ereignisse welche sich an dieser Stelle zugetragen haben und deren Andenken man für unverlöschbar halten sollte, in der Tradition der Stadt keinerlei Fortpflanzung gefunden haben. Wer bezeichnet uns heute noch die Stelle, wo Cardinal Lambertus von Ostia, nachheriger Papst Honorius IV., im Jahr 1122 unter freiem Himmel und unter dem Zudrange und endlosen Jubel des ganzen Volkes das eben geschlossene, so tief in den Gang der Geschichte eingreifende Concordat über die Belehnung der Bischöfe verkündete? Wer bezeichnet uns noch den Kampfplatz, wo zwei Jahre nachher die Bürger der Stadt gegen den Kaiser und sein Belagerungsheer ausfielen, um den von ihnen gewählten Bischof Burchard II. durchzusetzen? Wo finden wir noch eine Erinnerung an die prächtige Hochzeitsfeier Kaiser Friedrichs II. mit Isabella von England im Dome zu Worms, die wochenlang die ganze Bevölkerung in endlosen Freuden und Festlichkeiten hielt? Wer weiß die Räume zu nennen, wo Luther von Kaiser und Reich geladen war? Wer weiß noch von den Privilegien, die Kaiser Heinrich V. und Friedrich I. der Stadt ertheilt haben und die das Fundament bildeten, auf dem Worms sich zu dieser großen und wichtigen Freistadt erheben, seine Verfassung ausbilden und seinen Handel ausbreiten konnte?
Was nun den Dom betrifft, so hat dieser seit der glänzenden Hochzeit Kaiser Friedrichs in demselben wohl keinerlei wesentliche Umgestaltungen erlitten, und der Bearbeiter des Nibelungenliedes hat den Dom unzweifelhaft ebenso vor Augen gehabt, wie wir ihn heute sehen, - nur daß an die Stelle der von den Franzosen zerstörten Opferstätten, Kunstwerke und Grabmäler andere Altäre, Chorstühle und Quasten einen grellen Mißklang zu dem ernsten, erhabenen und würdevollen Tempel Gottes bilden.
III. Kunstwerke des Domes.
Je größer und bedeutender die Rolle war, welche Worms in seiner Blüthezeit durch seine Verfassung, seine Politik, seinen Handel spielte, um so auffallender muß es sein, daß diese volkreiche Stadt in dem ganzen Verlaufe ihrer Geschichte auch nicht einen einzigen Geis geboren oder zu ihren Bürgern gezählt hat, der in dem Reiche der Kunst oder der Wissenschaft mit der Fackel des Genies dem Fühlen und dem Bewußtsein der Zeit und der Ratio vorangeleuchtet hätte, - während doch fast alle damaligen Freistädte, wie Nürnberg, Augsburg, Ulm, Köln, eine große Reihe der bedeutendsten Erscheinungen in diesem Gebiete aufzuweisen haben. Und in der That ließen sich verschiedene Ursachen geltend machen, die dem Aufblühen der Wissenschaft und Kunst in Worms kein günstiges Feld darboten. Selbst die