Bevor er im Herbst 1981 starb, äußerte Karmapa den starken Wunsch, daß drei sehr wichtige Projekte vollendet werden sollten: das Nalanda Institut für höhere buddhistische Studien in Rumtek, das Dharma Chakra Zentrum in Neu Delhi und der Druck von 500 Exemplaren des Tengyur, einer umfassenden Sammlung von Kommentaren zu Buddhas Belehrungen. Das erste dieser Projekte kam unter die Beaufsichtigung von Jamgön Rinpoche, wohingegen das Vorhaben in Delhi, das später als das Karmapa International Buddhist Institut bekannt wurde, Shamar Rinpoches Bereich wurde. Der Druck des Tengyur, ein mühseliger und peinlich genauer, lang andauernder Vorgang, sollte ebenfalls in Delhi abgeschlossen werden.
So sollten bald einige der jungen Tulkus unter Karmapas Fittichen hervorkommen und ihre Kraft in der großen Welt erproben. Tai Situ hatte sich schon 1976 aus dem Kloster herausgewagt, bevor seine Ausbildung beendet war. Aber sein Wechsel in die westlichen Himalayas war offensichtlich voreilig und auch gegen den Willen seines Lamas gewesen. Immer wieder gab Karmapa Hannah und Ole im Vertrauen zu verstehen, daß Situ Rinpoche nach Sikkim zurückkehren und seine Ausbildung in der Sichtweise von Mahamudra, dem Großen Siegel - die letztendliche Sichtweise von der Natur der Wirklichkeit - beenden sollte. Aber es war nutzlos - Karmapas Appelle stießen auf taube Ohren und Situpa blieb viel länger in seinem freiwilligen Exil, als es nützlich war. Als er schließlich auftauchte, waren die Zeit und die Bedingungen für die Beendigung seiner Ausbildung vorbei. In einem seiner Briefe an seinen Lama wundert sich Situpa darüber, daß Karmapa sich weigerte, seine zahlreichen vorangegangenen Briefe zu beantworten. Es sah so aus, daß Seine Heiligkeit nach all den Jahren, in denen er seinen Herzenssohn gebeten hatte zurückzukehren, sich entschieden hatte, ihn nicht mehr in sein Kloster aufzunehmen. Und so blieb Situ Rinpoche, außer dem Aufenthalt während Karmapas Verbrennungszeremonie und einigen späteren Kurzbesuchen, Rumtek bis 1992 beständig fern. Als er dann im Mai dieses Jahres auftauchte, hatte er einiges mehr im Sinn, als nur den Wunsch, seine religiösen Pflichten zu erfüllen.
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Die ersten Zeichen einer sich in der Linie zusammenbrauenden Auseinandersetzung zeigten sich unmittelbar nach Karmapas Tod im Jahre 1981. Eineinhalb Jahre zuvor hatte Karmapa Hannah und Ole am Tag der Sommersonnenwende in Colorado den Zeitpunkt seines Todes anvertraut. Seinem Wunsch gemäß reisten das dänische Paar und hundert ihrer Freunde nach Sikkim und kamen in Rumtek kurz vor Karmapas Tod in Amerika an.
45 Tage später, am 20. Dezember 1981, führte die offizielle Verbrennungszeremonie mehrere tausend Anhänger Karmapas an seinem Hauptsitz zusammen. Bei diesem bedeutenden Ereignis rollte plötzlich - während Karmapas Körper, der zur Größe eines Babys geschrumpft war, von den Flammen verzehrt wurde - ein „blau-schwarzer Ball“ aus einer Öffnung der Verbrennungsstelle heraus. Er blieb an der nördlichen, nach Tibet gerichteten Seite des Verbrennungsplatzes liegen, wo Lopön Tsechu - Karmapas Vertrauter - und zwei andere Lamas standen. Dieses ungewöhnliche Vorkommnis rief große Aufregung und einige Spekulationen hervor. Niemand wußte genau, was man mit diesem mysteriösen Gegenstand anfangen sollte. Die verdutzten Lamas liefen zu Kalu Rinpoche, dem ältesten und mutmaßlich Weisesten in der Runde, um ihn um Rat zu fragen. Nachdem er den kniffligen „Ball“ eingehend untersucht hatte, nickte der alte Kalu in wissender Billigung, blieb aber genauso verwundert wie der Rest der illustren Versammlung. Alle schauten sich ratlos an und warteten hilflos auf eine Antwort. Mittlerweile meinten Leute, daß der Gegenstand einem menschlichen Organ ähnelte, weshalb ihn Lopön Tsechu an einer erhöhten Platz an der Seite des Verbrennungsstupa bringen ließ.
In diesem Augenblick tauchte Situ Rinpoche, mit Opferungen die in dem Feuer verbrannt werden sollten, aus dem angrenzenden Zimmer auf. Er bemerkte die Unruhe, hatte aber offensichtlich keine Ahnung, was da vor sich ging. Als er die verblüfften Gesichter um sich herum und den runden Klumpen, der sich hoch auf einer Stahlplatte befand, sah, nahm er den Teller und verschwand mit großem Pomp und Aufheben samt seinem neuen Besitz im Hauptaltarraum. Später am Abend brachte er, in weniger zeremoniellem Stil, den Gegenstand still in seinen Privatbereich und hielt ihn dort unter Verschluß.
Drei Tage später fand eine große Kagyü Konferenz in Rumtek statt. Als die älteren Lamas der Linie nebeneinander in der Halle des Institutes saßen, stand Situ Rinpoche auf und hielt vor der vornehmen Versammlung der traditionellen tibetischen Rinpoches eine Rede auf Englisch. Zuerst offenbarte er, daß das, was er da in seinem Zimmer in Sicherheit gebracht hatte, Karmapas Herz sei. „Das Herz flog aus dem nördlichen Tor des Verbrennungsfeuers und landete in meiner Hand“, bekannte er stolz und zeigte seine rechte Handfläche, damit alle sie bewundern konnten. „Nun gehört es mir“, sagte er schließlich. Daraufhin verkündete er, daß er in Sherab Ling, seinem Kloster im West-Himalaya, einen ungefähr einen halben Meter hohen Stupa aus Gold bauen wolle, um die kostbare Reliquie darin zu beherbergen. Die Lamas schauten den sie in Englisch ansprechenden Situ Rinpoche teilnahmslos an, denn sie konnten kein einziges Wort verstehen. Die wenigen Westler, die da waren, starrten ihn mit Befremdung an. Zufrieden musterte Situ Rinpoche die schweigende Versammlung und nahm wieder Platz. Er zeigte nicht die geringste Neigung, seine historische Botschaft auch noch auf tibetisch zu verkünden. Warum er sich dafür entschieden hatte, die Rinpoches mit dieser bedeutenden Bekanntmachung in einer Sprache aufzuklären, die diese nicht verstanden, war ein Mysterium.
„Rinpoche, Ihr solltet Tibetisch reden“, ertönte Shamarpas Stimme durch den vollen Raum. Shamar Tulku, der nicht über das Treffen informiert worden war, kam mitten in der Predigt seines Kollegen, gerade rechtzeitig, um mitzuhören, wie das Herz aus der Verbrennungsstupa in Situpas Hand gesegelt sei. Er hatte wohl sofort erkannt, daß Tai Situ die wertvolle Reliquie nach Sherab Ling mitnehmen wollte und keiner ihn daran hindern würde. Die älteren Lamas, die eine Erklärung in einer fremden Sprache erhalten hatten, würden hübsch im Dunkeln gehalten. Ohne Zeit zu verlieren, lud Shamarpa seinen Kollegen freundlich ein, auf Tibetisch zu wiederholen, was er eben zuvor auf Englisch erklärt hatte. Mit sichtbarem Unbehagen erhob sich Situ Rinpoche zum zweiten Mal. „Shamar Rinpoche hat mich zu Recht daran erinnert, daß ich das Tibetisch vergessen habe“, bestätigte er und erzählte die Geschichte noch einmal in seinem Heimatdialekt.
Hier folgte der Auftritt Damcho Yongdus, des kampflustigen alten Generalsekretärs von Rumtek. Der plötzliche Aufstieg Situpas zum Wächter von Karmapas Herz, war offensichtlich für ihn genauso neu wie für den Rest der Versammlung. Unbeeindruckt von der voreingenommenen Version der Vorgänge bei der Verbrennungszeremonie und auch nicht in der Stimmung, diese ungewöhnliche Reliquie aus Rumtek entwischen zu lassen, erklärte Damcho Yongdu kühn, daß das Herz niemandem in die Hand geflogen sei und schon gar nicht in Situpas. Dann sammelte er seine Kräfte, um Sherab Lings Anspruch entgegenzutreten. Im Namen der Rumtek-Verwaltung versprach er - falls nötig - Gelder bereitzustellen, um einen eineinhalb Meter hohen goldenen Stupa zu errichten. Als Verwalter von Karmapas Sitz bestand er fest darauf, daß alle Gegenstände, die mit dem Wohlstand und dem künftigen Wohlergehen der Linie zu tun hätten, gemäß Karmapas Wunsch in Rumtek bleiben sollten. Ohne auf weitere Überraschungen zu warten, führte der alte Mann eine Prozession zu Situpas Zimmer und holte die Reliquie schnell aus dem Regal. Sein entschlossenes Handeln, klares Urteilen und sein entschiedenes Überbieten von Situpas Angebot retteten den Tag. Karmapas Herz durfte in Rumtek bleiben und auf den versprochenen goldenen Stupa warten, der es beherbergen sollte. Wie sich später herausstellen sollte, hielt Damcho Yongdu sein Versprechen. Heute beherrscht eine Stupa aus Gold, wenn auch nur dreißig Zentimeter hoch, Rumtek vom ersten Stock des Klosters aus.
Das Störende an der Sache war nicht so sehr das Tauziehen um Karmapas Herz. Das war angesichts der besonderen Bedeutung der Reliquie eher verständlich. Vielmehr war es die bewußte Verzerrung der Tatsachen durch einen ehrwürdigen Linienhalter. Situ Rinpoches Version der Ereignisse war bestenfalls eine vage und trübe Darstellung der Wahrheit und hatte klar den guten Willen und die Vorstellungskraft der Anwesenden bis an die Grenzen strapaziert. Wie Augenzeugen Jahre später berichteten, war der einzige Grund, warum das Herz in Situpas Hände gelangte, der, daß er es sich von der Seite des Stupa geschnappt und