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1982 starb Damcho Yongdu, der Generalsekretär von Rumtek. Er war eine schillernde Persönlichkeit und die Verkörperung der alten Ordnung. Sein autokratischer Stil und sein stürmisches Temperament verschafften ihm selbst bei den härtesten und konservativsten Khampas nur wenig Anhänger. Während Karmapas Abwesenheit gab es unter den Kagyüs nur wenige, die besser dafür gerüstet waren, die Schule in Einklang mit den Anforderungen des 20. Jahrhunderts zu bringen als Topga Yulgyal, ein Meister der Meditation, der seine Fähigkeiten noch in Tsurphu erlangt hatte. Er war 1968 von Karmapa zum nächsten Generalsekretär ernannt worden, hatte bereits den bitteren Beigeschmack eines öffentlichen Amt gekostet und übernahm nach dem Tod Damcho Yongdus formal dessen Geschäfte.
Die Zustände die dieser in Rumtek hinterlassen hatte, grenzten an Chaos. Damcho Yongdu war niemandem Rechenschaft schuldig gewesen, hatte absolute Macht ausgeübt und wie ein König geherrscht, der er ja auch war. Er kümmerte sich wenig um die Meinung seiner Mitarbeiter und noch viel weniger um jene von Karmapas Anhängern. Ein zeitgemäßer Führungsstil, der eine strenge Kontrolle der ausübenden Amtsgewalt beinhaltet, war für seine mittelalterliche Denkweise eine fremde Vorstellung. Da er eine Abneigung gegen öffentliche Aufzeichnungen hegte, vermied er auch nur die geringsten Art von Buchführung und hielt alle finanziellen Angelegenheiten von den Augen der Förderer des Klosters fern. Als das Nachfolgeteam an die Familie des ehemaligen Generalsekretärs herantrat, um die Vermögenswerte Rumteks zu übernehmen und die Finanzberichte zu überprüfen, kam es zu einem riesigen Skandal. Von seinen Helfern flankiert, zeigte sich Topga Yulgyal an der Tür des imposanten Hauses seines Vorgängers in der Absicht, die Kontrolle über den Schatz zu übernehmen. Das neue Team war gespannt darauf, einen Blick auf Karmapas Mittel zu werfen, die der verstorbene Sekretär bis dahin alleine verwaltet hatte. Rumtek war im Laufe der Jahre zu einer umfangreichen Institution gewachsen und brauchte jeden Tag eine ziemliche Menge Bares, um über Wasser gehalten zu werden. Die gegenwärtige Verwaltung hatte keine Zeit zu verlieren - das Geld war unentbehrlich.
Nach zehn Minuten langen Wartens tauchte endlich die Witwe des verstorbenen Sekretärs aus dem Haus auf und übergab feierlich eine kleine aber teuer aussehende Schatulle. Als weitere Minuten verstrichen waren und es offensichtlich wurde, daß diesem bedeutenden Gegenstand nichts mehr folgen würde, wagten die neuen Verwalter einen Blick in die Schatulle und entdeckten zu ihrer völligen Überraschung die “atemberaubende” Summe von 30.000 indischen Rupien. (*FN: In diesen Tagen ca. US$ 2000.- ) Die Situation grenzte an Absurdität. Das sei alles was es gäbe, behaupteten die ehrenwerten Verwandten. Nicht eine einzige Rupie mehr. Ansonsten wären die Truhen leer. Damcho Yongdus Witwe heuchelte Unwissenheit und Unverständnis. In keiner Weise überzeugt starrten die geschockten Verwalter auf die Handvoll Banknoten und erkannten plötzlich, daß sich Rumtek am Rande des Bankrotts befand. Mit diesen Reserven von rund 30.000 Rupien und einer kleinen Schatulle konnten sie den Klosterbetrieb vielleicht noch für einige Stunden weiter aufrecht erhalten. Das große Projekt in Delhi, das gerade begonnen worden war, benötigte auch eine ernstzunehmende Finanzspritze. Riesige Rechnungen türmten sich auf. Und zu allem Überfluß drohte die Indische Regierung, sowohl Karmapas Besitz in Delhi als auch jenen in Sikkim zu besteuern. Ausgerechnet in dieser schwierigen Situation schienen sich die finanziellen Mittel Seiner Heiligkeit in Luft aufgelöst zu haben. Nicht in der Absicht seinen Vorgänger zu beschuldigen er hätte den Schatz geplündert, begann der neue Sekretär dennoch Nachforschungen nach dem verschwundenen Kapital zu machen. In seinem Bemühen, Karmapa zu dienen, hatte der alte Mann wohl sein privates Geld mit dem öffentlichen vermischt, unglücklicherweise zum schmerzvollen Nachteil des letzteren. Somit wurden der junge Pönlop Rinpoche, Damcho Yongdus Sohn, und die ganze Familie zum Gegenstand einer öffentlichen Untersuchung.
Mit der Absicht, eines Tages alle praktischen Angelegenheiten, die das Funktionieren der Linie betrafen, in die Hand einer gemeinnützigen Organisation zu legen, hatte der 16. Karmapa 1961 den Karmapa Charitable Trust gegründet. Dieser Verein war in Indien registriert worden und sollte ganz nach indischem Recht arbeiten. Von Karmapas Tod an bis zu dem Zeitpunkt, da seine 17. Inkarnation das 21. Lebensjahr erreicht haben würde, war der Karmapa Charitable Trust automatisch zur höchsten legalen Autorität geworden, die die Linie vertrat, genau so, wie es im Vertrag des Trusts besonders angeführt war. Es gab jedoch in Sikkim nur wenige, die sich an die Existenz dieses Trusts erinnerten. Nach dem Tod Seiner Heiligkeit wurde Rumtek mit der alter Laschheit und Unklarheit des alten Tibet weitergeführt. Karmapas überwachende Stiftung blieb eine noble Absicht auf dem Papier.
Jetzt, da der alte Sekretär nicht mehr da war und die Finanzkrise sich sowohl in Rumtek als auch in Delhi abzeichnete, erinnerte sich die neue Verwaltung plötzlich an den ruhenden Trust. Die gemeinnützige Organisation zum Leben zu erwecken würde die Linie vor der bevorstehenden Steuerzahlung an den indischen Staat befreien und sie ebenfalls vor einem neuerlichen Betrug schützen. Rumtek konnte nicht länger wie ein privates Herrschaftsgebiet verwaltet werden, wo die Vernachlässigung von offiziellen Aufzeichnungen und die Geringschätzung einer überwachenden Einrichtung die Norm waren. Die Finanzpolitik mußte an die modernen Richtlinien zur Leitung von wohltätigen Einrichtungen angeglichen werden. Um diese Regeln zu erfüllen, mußten die neuen Verwalter für jede ausgegebene Rupie Rechenschaft ablegen. So brachte das plötzliche Verschwinden der Finanzmittel Rumtek nicht nur an den Rand der Zahlungsunfähigkeit, es drohte auch eine Kraftprobe mit den indischen Bürokraten.
Topgas Untersuchung dessen, was verdächtig nach Betrug aussah und sein Bemühen, die verlorenen Finanzmittel zurückzubekommen, gefielen der Familie des verstorbenen Sekretärs nicht sonderlich. Es war nicht ganz klar, ob die mächtigen Verwandten nur den guten Ruf des Verstorbenen schützen wollten, oder ob sie obendrein auch das fehlende Vermögen versteckt hielten. Auf jeden Fall behinderten sie gleich von Beginn an die Untersuchungen und standen der Idee, Karmapas Geld zu retten, völlig feindselig gegenüber. Bald, nachdem Topga Rinpoche seine Untersuchung begonnen hatte, verschwand die Witwe, die Führerin des Familienclans, komplett von der Bildfläche. Als sie unerwartet in Woodstock, Karmapas Zentrum nördlich von New York, verheiratet mit ihrem alten Freund und Liebhaber Tenzin Chonyi wieder auftauchte, mußte die Untersuchung gegen ihre Verwandten eingestellt werden. Karmapas Vermögen war nirgends zu finden. Die mächtige Familie jedoch wollte Topgala dessen unerbittliche Haltung nicht verzeihen. Der neue Sekretär wurde zu ihrem Todfeind und sein guter Name von da an sowohl in Asien als auch in Amerika durch den Dreck gezogen.
In der Zwischenzeit wurde Topgalas Beharren, die Besitztümer Seiner Heiligkeit nach den neuen Richtlinien zu verwalten, zur Ketzerei erklärt. Auch sein standhaftes Eintreten gegen die übliche Praxis, Tulku-Titel gegen politische Loyalität einzutauschen, brachte ihm seitens der herrschenden Kräfte in Sikkim nur wenig Sympathie. Auslöser war seine Weigerung, den neuen Gyaton Tulku in Rumtek aufzunehmen. Der alte Gyaton war wegen seines erbitterten Widerstands gegen Karmapas Anwesenheit in Sikkim berüchtigt gewesen. Solches Benehmen war gleichermaßen unverständlich wie undankbar, nicht zuletzt, weil Karmapa selbst Gyaton 1954 zu einem bequemen Posten in Gangtok - der Hauptstadt Sikkims - verholfen hatte. Als er dem Tod näher kam, mußte der alte Lama wohl erkannt haben, daß er sich in seinem Leben schwer geirrt hatte, und so erklärte er, bevor er 1969 starb, der Letzte der Gyatons zu sein. In Zukunft würde es keine Gyaton-Inkarnationen mehr geben. Einige Zeit nach seinem Tod traten Gyatons Diener mit der Bitte an Karmapa heran, er möge schauen, ob ihr Meister nicht doch vielleicht irgendwo wiedergeboren worden sei. Karmapas Antwort war eindeutig: „Gyaton Tulku ist nicht wiedergeboren. Es gibt niemanden zu erkennen.” 15 Jahre später, im Jahre 1983, lieferte Situ Rinpoche seinen Beitrag zur Geschichte der Gyatons. Ohne irgendeine Ankündigung und ungeachtet der