Ein Wissenschaftler hat sein ganzes Leben lang Beweise für eine bestimmte Art von Theorie erforscht, ist auf diesem Gebiet bekannt geworden und hat sie zur Grundlage seiner Karriere und seines Renommees gemacht. Ein jüngerer Kollege erzielt jedoch einen Durchbruch, der eine völlig andere Art von Theorie liefert. Die neue Theorie erklärt die gleichen Phänomene, beseitigt zudem zahlreiche rätselhafte Diskrepanzen und eröffnet eine ganz neue Forschungsrichtung. Ein Großteil der Arbeit des älteren Wissenschaftlers sieht jetzt wie Zeitverschwendung aus. Verbittert klammert er sich an seine alte Theorie und versucht sie zu verteidigen, aber seine Position wird zunehmend unhaltbar. So verkündet er schließlich in einer dramatischen öffentlichen Erklärung, dass sein jüngerer Kollege Recht hat, und dass er die alte Forschungsrichtung aufgeben wird. Beschämt spielt er eine untergeordnete Rolle in einem Forschungsprogramm, dass nun von seinem jüngeren Kollegen geleitet wird. Nach einigen Jahren gelingt es ihm jedoch durch seine weiterhin kritische Sicht auf die neue Forschungsrichtung, einige Schwächen der neuen Theorie zu identifizieren, so dass sie zweckdienlich modifiziert werden kann.
Bei all diesen grundverschiedenen Beispielen handelt es sich um Gegensatzpaare absoluter Überzeugungen. In einigen Fällen können diese Überzeugungen einen bestimmten sozialen Kontext zusammen mit einer Reihe anderer, voneinander abhängiger Überzeugungen vollständig dominieren (z.B. konservativer Islam). In anderen kann es sich nur um eine relativ losgelöste Überzeugung handeln, die in einem Kontext, in dem viele andere Überzeugungen vorläufig sind, eine Blockade schafft (z.B. Festhalten an einer wissenschaftlichen Theorie). Die Überzeugungen können sich auf vermutete Fakten oder Werte oder beides beziehen. Sie können wissenschaftlicher, ethischer oder ästhetischer Natur sein (oder eher eine Kombination aus allen). Die Gruppen, die diese absoluten Überzeugungen bestärken, können groß oder klein, formell oder informell und ihre Überzeugungen stark systematisiert oder völlig inkohärent sein. Die absoluten Überzeugungen können stark von obsessiven Wünschen und Ängsten untermauert werden, die Ursachen in der Vergangenheit haben können (z.B. Alkoholismus). Andererseits können sie relativ abstrakt und kontextabhängig sein (z.B. Festhalten an einer Theorie). Der Ansatz des Mittleren Wegs ermöglicht es, diese aufzulösen, da er sich über die Begrenzungen dieses Gegensatzpaars absoluter Werte hinausbewegt, wobei keine der beiden Annahmen vollständig akzeptiert wird. Auch wenn er als recht grobe Bewegung von einer Position in Richtung der entgegengesetzten beginnen mag, wird er doch zunehmend subtiler und im weiteren Verlauf weniger abhängig von einer Seite.
Der so verstandene Mittlere Weg ist ein Urteilsprinzip, keine metaphysische Behauptung oder ein Naturgesetz des Universums. Er zeichnet sich eher durch strukturelle Merkmale unserer Urteilsweise aus, weniger durch bestimmte Urteilsinhalte. Er garantiert keine bestimmten Ergebnisse durch diese Urteilsweise, sondern ermöglicht eine größere Angemessenheit des Urteils selbst. Er bewirkt dies, indem er sicherstellt, dass wir uns von Verabsolutierungen lösen, die leicht dieses Urteil blockieren können und uns in starren Reaktionsmustern gegenüber unserer Umwelt verharren lassen. Dieses Konzept einer größeren Angemessenheit des Urteils durch Vermeiden Verabsolutierungen kann auf viele weitere Arten gerechtfertigt werden, wie wir insbesondere in Abschnitt 7 sehen werden. Mir ist klar, dass dies nicht die herkömmliche buddhistische Darstellung dessen ist, worin der Mittlere Weg besteht. Ich werde in Abschnitt 4 aber Argumente gegen die Begrenztheit dieser traditionellen buddhistischen Darstellungen vorbringen. Vorerst möchte ich mich nur auf eine konstruktive Schilderung des Mittleren Wegs im Zusammenhang mit dem Buddha konzentrieren.
Die Elemente des Mittleren Wegs sind einer genauen Analyse wert, um klarer zu zeigen, wie er wirkt, sowohl im Leben des Buddha als auch in der allgemeinen Praxis. Ich habe fünf Schlüsselelemente des Mittleren Wegs herausgearbeitet, die ich nun auflisten und zur Geschichte des Buddha in Beziehung setzen möchte:
1 Skepsis Dies ist die grundsätzliche Anerkennung von Unsicherheit (nicht als eine in jeglicher Hinsicht negative Haltung misszuverstehen – s. Kapitel 4.a) Sie ergibt sich aus unserer endlichen verkörperten Erfahrung. Im frühen Leben des Buddha zeigt sich diese Skepsis in der Art und Weise, wie er weder die Dogmen des Palasts noch die des Waldes annimmt, sondern sie weiterhin als unsicher ansieht.
2 Vorläufigkeit Dies ist die Fähigkeit, sich nicht nur der Begrenztheit einer bestimmten Überzeugung kritisch bewusst zu sein, sondern auch Alternativen dazu zur Hand zu haben (was Fantasie erfordert). In Buddhas frühem Leben wird dies insbesondere durch das Vierte Zeichen verkörpert, das eine Alternative zum Palast bot, und die Jhana-Erfahrung unter dem Rosenapfelbaum, die eine Alternative zur Askese bot.
3 Agnostizismus Dies ist die Fähigkeit, unseren Glauben an eine der einander entgegengesetzten Verabsolutierungen aufzugeben. Wir beteiligen uns nicht an den gegenseitigen Schuldzuweisungen dieser beiden. Wir vermeiden standhaft absolute Überzeugungen, von denen wir wissen, dass sie nur innere oder äußere Konflikte verursachen werden. Diese Qualität kann sich nur entwickeln, sobald wir über die anfängliche Ablehnung des ersten Extrems hinausgegangen sind. Dann beginnen wir, dessen Verabsolutierungen in gleicher Weise wie die des zweiten Extrems abzuwägen, anstatt eine Verabsolutierung der anderen vorzuziehen. In Buddhas frühem Leben beginnt sich dieser Agnostizismus zu zeigen, als Siddhartha entschieden über die Askese hinausgeht, ohne die Werte des Palasts wieder anzunehmen.
4 Allmählichkeit Dies ist die Priorisierung einer graduellen Beurteilung von Qualitäten gegenüber absoluten Beurteilungen, die wahr oder falsch sein müssen. Vielleicht ist ihnen dies bereits in der Vorstellung begegnet, Grauschattierungen im Gegensatz zu „Schwarz-Weiß-Denken“, Dualismus oder Dichotomie anzuerkennen. Siddhartha begrüßt allmähliche Entwicklung hinsichtlich der Jhanas, als er Alara Kalama und Udaka Ramaputta hinter sich lässt. Was er ablehnt sind ihre verabsolutierenden Interpretationen ihrer Errungenschaften. Implizit sieht er diese Errungenschaften nur als Stationen innerhalb eines Spektrums meditativer Errungenschaften. Als er die Askese aufgibt, beginnt er auch allmählich eine Vorstellung von Genuss zuzulassen. Genuss ist dann nicht mehr etwas, was vollständig vermieden werden muss, sondern vielmehr als eine Erfahrung angesehen werden sollte, die Zustände der Verbundenheit schaffen kann.
5 Integration Während die skeptischen und agnostischen Prinzipien des Mittleren Wegs das Vermeiden von Absolutem betont, ist Integration das positive Gegenstück dazu. Sie besteht aus dem Prozess, zuvor gegensätzliche Wünsche, Bedeutungen und Überzeugungen zu vereinen. Integration wird durch das Vermeiden von Absolutem und von dadurch verursachten Konflikten ermöglicht. In Abhängigkeit der gewohnheitsmäßigen psychologischen Zustände des Individuums kann ein bestimmtes Urteil stärker integriert und damit angemessener werden. Diese Zustände werden wiederum durch den Grad der Integration zwischen Individuen im sozialen und politischen Kontext beeinflusst. Siddharthas Jhana-Erfahrung gibt ein Beispiel für Integration und zeigt die zentrale Bedeutung der Integration als psychologischen Effekt der Praxis des Mittleren Wegs. Ich werde in Abschnitt 5 ausführlich darauf eingehen, wie die vom Buddha gelehrten Praktiken die Entwicklung der Integration fördern können. Wie wir sehen werden, spiegelt Siddharthas weitere Entwicklung, nachdem er den Mittleren Weg entdeckt hat, weiterhin den Integrationsprozess wider.
Alle fünf dieser Elemente des Mittleren Wegs werden in der Beschreibung seiner Bedeutung und Praxis, die im weiteren Verlauf dieses Buchs zu finden ist, einen zentralen Platz einnehmen. Diese sind weniger durch ihre explizite Erwähnung in irgendeinem maßgeblichen Text legitimiert, sondern durch ihren praktischen Wert: einen, der von Menschen genutzt werden kann, ohne sich auf metaphysische Annahmen zu berufen. Aber man kann nach Inspirationsquellen für ihre Praxis suchen, vielleicht auch nach anerkannten Informationsquellen, um ihre Glaubwürdigkeit zu steigern. Man kann diese Inspiration oder Glaubwürdigkeit in der buddhistischen Tradition finden und die Erzählung, die ich hier über ihren Platz im Leben des Buddha schildere, kann Ihnen helfen, sie zu erkennen. Ebenso können es die Dinge, die ich im weiteren Verlauf dieses Buchs zu ihrem Platz in den Lehren des Buddha ausführen werde.
Um auf den Pali-Kanon zurückzukommen, es ist auch erwähnenswert, dass Siddharthas Entdeckung des Mittleren Wegs unmittelbar durch eine Handlung von symbolischer und praktischer Bedeutung erlangt wird:
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