Die letzten Generationen der Jarle von Ulfrskógr hatten ihr Volk in einem Krieg vor dem Joch der verhassten Südländer bewahrt. Sie hatten es außerdem durch die Schrecken nach dem Grau gebracht, und das Volk von Norselund vergaß nicht, zum Guten wie zum Schlechten. Es mochte seine Herren, und ein tapferer, starker aber toter Anführer war kein Stück besser als ein lebendiger, feiger Narr.
Dennoch war der Jarl jedes Jahr am Wall. Die Festung Snaergarde lag sechzig Landmeilen im Südwesten. Sie war die Heimstatt des Regenten, die er nur zu wenigen Anlässen verließ. Die jährlichen Besuche beim König auf dem Festland stellten einen solchen dar, die Zeit der Angriffe am Wall einen weiteren. Er begab sich natürlich nicht in die erste Linie, war aber auch nie damit zufrieden, sich nur zu den Bogenschützen zu gesellen.
»Kommen sicher bald mehr von seinen Raben, wo er nun da ist. Ist jedes Jahr so gewesen bisher« meinte Kelton. »Kommen immer ein paar Dutzend von denen, die brauchen das wahrscheinlich.«
Es hieß, dass der Jarl seine Garde jedes Jahr bei den ersten Angriffswellen ganz vorne kämpfen ließ. Nicht, dass das Prinzip der Abschreckung durch Schocktruppen bei den Klabautern funktionierte. Diese Bestien kannten weder Taktik noch Moral oder Angst. Vermutlich ging es einfach ums Töten und um die Wirkung auf die anderen Soldaten. Für die Männer spielten Moral und Angst sehr wohl eine Rolle, und Seite an Seite mit der Kriegerelite zu kämpfen, war der Ersteren ebenso zuträglich, wie es half, die Letztere im Zaum zu halten. Kelton schien plötzlich wieder einzufallen, wo er war und mit wem er redete. Er gab Naitan einen gemeinen Schlag auf den Oberarm.
»Und jetzt Schluss mit dem Quatschen und Gaffen. Da auf der anderen Seite liegt das, was uns zu interessieren hat, also hopp.«
Da es sinnlos war, zu widersprechen, von potentiell schmerzhaft ganz zu schweigen, wandte Naitan sich mit einem letzten Blick auf den Jarl und seine Männer ab. Vielleicht würde er die Chance bekommen, mit ihnen gemeinsam in einer Schlacht zu kämpfen. Diese Aussicht war alles wert, was ihm hier widerfahren war und noch widerfahren sollte. Er würde diese erste Zeit überstehen, und sich dann in der Schlacht gegen die Klabauter beweisen. Mit etwas Glück würde sogar Kelton getötet werden. Er und ein paar andere von den Scheißkerlen mochten umkommen, was sein Leben hier ungemein erleichtern würde.
Es dauerte nicht lange, bis die Klabauter kamen. Der Jarl war noch am Wall, als die Kämpfe begannen. Bis dahin waren tatsächlich mehrere Dutzend Blodskjoldr der Rabengarde eingetroffen, zumeist jüngere Männer. Der Wall war eine gute Schule, für den einfachen Soldaten genauso wie für den Gardisten. Zum einen war dem Jarl eine gewisse Tötungspraxis seiner Männer wichtig. Zum anderen war der Kampf gegen eine brüllende, kreischende Masse aus Fell und Krallen eine gute alljährliche Abhärtung.
Kelton und Naitan kämpften beide, und tatsächlich erwischte es den mürrischen, schweigsamen jungen Mann aus Kråkebekk gleich bei der ersten Welle. Er verlor ein Auge und zwei Finger der linken Hand. Es dauerte lange, bis er sich davon erholte. Als er einigermaßen wieder hergestellt war, blieb er am Wall. Nicht bei den Kriegern, er sah auch mit dem verbliebenen Auge nicht mehr besonders viel. Aber er lebte im Dorf und arbeitete bei einem Pfeilmacher.
Naitan überstand drei Wellen und schlug sich so tapfer, wie er es sich erhofft hatte. Er verdiente sich nach einigen Schlachttagen das Privileg, in zweiter Reihe an der ersten Mauer zu kämpfen. Am letzten Tag, an dem es in diesem Jahr richtig zur Sache ging, erschlug ein riesiger, alter Klabauter den Mann vor Naitan und riss ihm dann den rechten Arm ab, als wäre es ein dünner Ast an einem Baum. Er war längst verblutet, als man mit der Suche nach Verwundeten begann. Er gehörte schließlich zu knapp drei Dutzend Gefallenen.
Es war ein guter Herbst mit geringen Verlusten. Man bestattete ihn gemeinsam mit den anderen in einem Massengrab auf dem ausgedehnten Friedhof, der etwas abseits der Siedlung lag. Es gab dort viele Gräber. Für jedes Jahr eines. Danach begann ein Schlachten, das nicht weniger brutal, aber sehr viel ungefährlicher war, als das vorangegangene. Die Kämpfe an sich waren nicht blutiger, als das ihnen folgende Sammeln und Häuten der Klabauter.
Naitans Vater bekam eine, für die Verhältnisse eines einfachen Landmannes, großzügige finanzielle Zuwendung. Es war immerhin genug, um zwei weitere Ochsen und eine neue Werkbank für die kleine Schreinerwerkstatt zu kaufen.
In Norselund kümmerte man sich um seine Leute.
Kapitel 1
Snaergarde
Die Wolken hingen so schwer und tief über Snaergarde, dass sie die höchsten Türme der alten Festung beinahe zu berühren schienen. Leichter Schneefall läutete den Beginn des Winters ein, was für den September nicht ungewöhnlich war. Die Schneewacht machte ihrem Namen seit Jahrzehnten fast ganzjährig alle Ehre. Mit dem Bau der Heimstatt derer av Ulfrskógr war lange vor dem des Walls begonnen worden, und sie galt als die älteste Burg Norselunds. Vor dem Grau hatte sie noch ein gutes Stück von der Schneefallgrenze entfernt gelegen. Dieser Tage begann der ewige Winter, welcher den Norden der Insel überzog, kaum zehn Landmeilen weiter nördlich und das Umland der Feste war nur wenige Monate im Jahr frei von Schnee und Frost.
Von den dorfähnlichen Gemeinschaften, die sich im Laufe der Zeit um jede größere Wehranlage formten, war hier nichts mehr zu sehen. In den letzten Jahrzehnten war in der Umgebung von Snaergarde weder Ackerbau noch Viehzucht möglich gewesen. Die Wohnhäuser und Bauernhöfe waren schließlich großflächigen Gebäuden aus dunklem Stein gewichen, die der Jarl hatte errichten lassen. Wie ein Teil der Festung schmiegten sie sich von außen an die dicken Mauern, wo sie sich auf bis zu drei Stockwerke erhoben. Trotz ihrer oberflächlichen Schlichtheit boten diese Unterkünfte den Menschen nicht nur Geborgenheit und Schutz, sondern auch eine gewisse Lebensqualität.
Wer hier lebte, litt keinen Hunger, hatte warme Kleidung und war vor Übergriffen geschützt. Alles lag fest in der Hand des Jarls und es gab weder einen freien Handel noch Störungen von außerhalb. In nördlicher und westlicher Richtung gingen die mehrere Schritte dicken Mauern direkt in den natürlichen Wall über, der dort als Fundament diente. Snaergarde stand zum größten Teil auf einem Sockel aus massivem Felsgestein. Das hatte damals zum einen den Bau der gewaltigen Anlage erleichtert, zum anderen das Anlegen umfangreicher Kellergewölbe ermöglicht. Die hier lebenden Menschen gehörten ohne Ausnahme zum Gefolge des Jarls. Es war ein isoliertes Leben in einer verschworenen Gemeinschaft, in die man für gewöhnlich hineingeboren wurde. Die nächste Ortschaft war das mehr als hundert Landmeilen südlich gelegene Hovelvol. Es war ein relativ kleiner Ort, der von einigen Dutzend Bauernhöfen umgeben an den Ufern des Jernlodda lag. Von dort kamen die wenigen Rohstoffe und Produkte, die man von außerhalb benötigte, wie etwa Leder, Getreide oder Käse.
Etwas abseits der Mauern standen lange, flache Gebäude. Diese Handwerkshallen waren aus dem gleichen dunklen Stein gebaut, der hier überall Verwendung gefunden hatte. Sie beherbergten Ausschmiedeanlagen und Verhüttungsbetriebe. In gleichmäßigem Abstand zogen sich die mit Schiefer gedeckten Bauwerke zwischen Lagern für Roherz und zahlreichen Rennöfen über das karge Land. Der Hauptgrund dafür, dass auf dieser so weit im Norden gelegenen Burg so viele Menschen lebten, war ihre Nähe zum Eisgebirge. Die gewaltigen Berge des nördlichen Randes der Welt stellten die Schatzkammer des Jarltums und der gesamten Insel dar.
Snaergarde war der Dreh- und Angelpunkt des Stoffes, der Norselund seit den Tagen der Vereinigung der alten Clans Stärke, Sicherheit und Wohlstand verlieh. Dem Eisenerz, aus dem die Schmiede der Insel ein Metall formten, dass im Reich als Nordeisen bekannt und begehrt war. Bis zu einem gewissen Maß traf das auch auf die schwere, ölige Steinkohle zu, die man in den westlichen Stollen förderte. In mehreren, im ewigen Winter des Eisgebirges gelegenen, Minenanlagen wurden jedes Jahr Tonnen an Erz abgebaut und zunächst nach Snaergarde gebracht. Zum größten Teil geschah das mit Hilfe des Jernlodda, der im Osten knapp fünfhundert Meter an den äußeren Mauern der Festung vorbeifloss. Der Fluss war seit dem Grau über einen erheblich längeren Zeitraum hinweg zugefroren als in früheren Tagen. Trotzdem stellte er noch