Hathagat Ohngesicht ließ mit dem Bau beginnen, sobald er die örtlichen Clans unter seiner Herrschaft vereinigt hatte. Die Wallanlage befand sich am schmalen, südlichen Ende einer Landzunge, die in das Eisgebirge im Norden führte. Wie eine natürlich gewachsene Straße in der See verlief sie an den äußeren Felswänden der Gebirgszüge entlang und verschwand schließlich in den Bergen. Lange vor dem Grau hatte man aufgegeben, das Ende dieses Weges und damit den mutmaßlichen Ursprung der Klabauter zu erkunden.
Heuer war es bereits fünfzig Landmeilen nördlich des Walls so kalt, dass kein Reittier auch nur einen Tag überlebte. Von den feindseligen Kreaturen selbst hatte Naitan bisher nur Zeichnungen gesehen und Geschichten gehört. Und dann waren da natürlich ihre Pelze. Am lebenden Geschöpf schneeweiß, verfärbte sich das Fell wenige Stunden nach dem Tod ihres Trägers zu einem tiefen, gleichmäßigen Grau.
Diese Felle waren im Laufe der Zeit zu einem festen Bestandteil der norselunder Kleidung geworden. In den alten Tagen lösten sie die Wolfspelze als Privileg des Adels ab, die Hathagat Ohngesicht und seine Gefolgsleute noch getragen hatten. Heute war Klabauterfell auf der Insel weiter verbreitet, galt aber nach wie vor als Statussymbol.
Der Legende zufolge brachten die Wölfe des großen Nordwaldes, eben jenem Ulfrskógr, dem sowohl der Clan als auch das spätere Jarltum den Namen verdankte, ihre toten Gefährten, und damit deren Pelze, regelmäßig den Clanführern dar. Eine Geste des Dankes für Schutz und Freundschaft. Naitan wusste nicht so recht, was er von diesen Geschichten halten sollte. Eine Tatsache hingegen war, dass die Wolfsjagd im Jarltum bis zum heutigen Tage bei Todesstrafe verboten war, also mochte durchaus ein Körnchen Wahrheit in den alten Überlieferungen liegen.
Der Wall war im Laufe der Zeit stetig weiter ausgebaut worden. Das war ebenso wenig grundlos geschehen, wie sich die Tradition gehalten hatte, junge Männer zum Dienst an die Mauern der Wehranlage zu schicken. So wie nichts in der Welt sich zum Guten entwickelte, so vergrößerte sich auch die Zahl der Klabauter eher, als das sie sich verringerte.
Naitan erreichte die oberste Ebene des Wehrganges und atmete innerlich auf. Hier oben krallte sich zwar sofort der eisige Wind in seine Kleidung und schickte Kältewellen in den darunterliegenden Körper, aber alles war besser als diese verdammten Stufen. Er zog sich die Kapuze des dicken Mantels, den er über zwei Schichten Wolle trug, tiefer ins Gesicht. Dann ging er unwillig zu dem Mann hinüber, der einige Schritte von ihm entfernt an der Brustwehr stand. Die Wache wurde nie allein gehalten, ob man nun ein knapp einen Monat alter Grünschnabel war oder nicht. Selbst der Dienst an der dritten Mauer stellte für diese Regel keine Ausnahme dar.
Der Wachdienst war den größten Teil des Jahres über eine sterbenslangweilige und nervtötende Arbeit. Doch obgleich die großen Angriffe immer zum Herbstanfang kamen, war man hier nie völlig sicher. Er stapfte zu dem anderen Mann hinüber, der sich nur kurz umdrehte, grunzte und ihm kaum wahrnehmbar zunickte. Dann drehte er das gegen den kalten Wind vermummte Gesicht zurück in Richtung der trostlosen Fläche der Landzunge, die sich weiß und tot in die dunkelgraue See gen Norden zog. Naitan seufze ob seiner Gesellschaft. Ausgerechnet Kelton, mal wieder. Der Mann war vor zwei Jahren aus Kråkebekk, dem südwestlichen Jarltum Norselunds, hierher gekommen. Warum er blieb, wusste Naitan ebenso wenig wie sonst etwas, das über den Namen des mürrischen Kameraden hinaus ging. Er war ein paar Jahre älter als er selbst und sprach kaum je ein Wort. Jedenfalls nicht mit ihm. Neben einer Schneewehe Wache zu halten wäre genauso unterhaltsam gewesen.
Natürlich hätte er es auch schlechter treffen können. Mit einem von den bösartigen alten Säcken zum Beispiel, die seit mehreren Wintern hier Dienst taten.
Es gab einmal die Freiwilligen, von denen jedes Jahr Dutzende kamen. Dann war da ein Kontingent an Karls und Huskarlar des Jarls, die in regelmäßigen Rotationen am Wall stationiert wurden. Über kurz oder lang verbrachten viele der Krieger des Jarltums auf diese Weise mindestens eine Saison auf den Mauern. Darüber hinaus gab es noch die feste Mannschaft, mehrere Hundert Männer und einige Dutzend Frauen, sowohl Kämpfer als auch Versorgungsvolk.
Naitan hatte den Eindruck, dass es dem Gemüt nicht sonderlich zuträglich war, diese Art Leben zu führen. Das war auch kaum verwunderlich, bestand doch der größte Teil des Jahres aus endloser Eintönigkeit und hartem Training in eisiger, nie endender Kälte. Im späten Sommer oder dem frühen Herbst kämpfte man dann gegen lebendige Alpträume aus Fell und Krallen und begann den Zyklus, wenn man denn überlebte, daraufhin von Neuem.
So betrachtet klang die Sache nicht mehr nach einem Abenteuer, von einer guten Idee ganz zu schweigen. Auch besonders mannhaft oder ehrenvoll schien es von diesem Blickwinkel aus nicht. Aber Naitan wollte schließlich auch nicht den Rest seines Lebens hier verbringen. Ein Jahr oder zwei mussten genügen. Bis dahin hoffte er, in der Schlacht die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten zu erlangen, und vielleicht in die Reihen der Karls eines Thane oder gar des Jarls selbst aufgenommen zu werden. Ein Soldat zu sein war das Größte, was er sich im Leben vorstellen konnte. Wenn auch nicht unbedingt am Wall.
Es war nicht so, dass ihm die harte Feldarbeit auf dem Land viel ausgemachte. Die Arbeit mit Holz bereitete ihm sogar Freude. Das Problem war nur, dass er eben der dritte und damit letzte Sohn seines Vaters war. Der Älteste erbte den Hof, der zweitälteste übernahm die Holzwerkstatt. Was für Naitan noch blieb, war sich auszusuchen, für welchen Bruder er für den Rest des Lebens arbeiten würde. Eine andere Möglichkeit bestand darin, sich die Tochter eines sohnlosen Nachbarn zu suchen und ihr ein Kind zu machen, aber wer wollte das schon? Naitan jedenfalls erschien keine dieser Perspektiven sonderlich erstrebenswert.
Auch wenn die früheren Träumereien über das Soldatenleben nicht mehr als romantische Jungendfantasien waren, betrachtete er das hier als die einzige Chance, die er im Leben bekommen würde. Er war für sein Alter weder besonders naiv noch war er dumm. Er versuchte nur, wie so viele andere, das Beste aus dem zu machen, was das Leben ihm bot. Naitans Familie kam aus der weiteren Umgebung der Hauptstadt Høyby und er war als Bürger des Jarltums Ulfrskógr harte und lange Winter gewohnt. Dennoch machte ihm die permanente, durch den Wind verstärkte Kälte hier schwer zu schaffen. Auch monatelangen Schnee kannte er. Dass alles um ihn herum praktisch ständig gefroren war, war jedoch ungewohnt. Ob unter dem Schnee oder frei dem Nordwind ausgeliefert, jede Oberfläche war von einer Eisschicht überzogen, der Boden, die Treppen, Türen, Waffen.
Er hatte sich anfangs in Grund und Boden geschämt, weil er mehrfach am Tag ausgerutscht und hingefallen war wie ein Dorftrottel. Die Tatsache, dass viele der anderen Neuen eine noch schlechtere Figur machten, vermochte ihn kaum aufzumuntern. Immerhin war es ihm bislang gelungen, nicht mit der Haut an einer Metallfläche festzufrieren.
Der siebzehnjährige Frejko, ein Bursche aus dem südöstlichen Jarltum Falksten, hatte es er vor wenigen Tagen fertiggebracht, sich die Innenseite des linken Unterarmes zur Hälfte zu häuten. Er stützte sich für einen Augenblick auf seinen Speer und schob dabei den Ärmel ein Stück nach oben. Es war so kalt, dass er das Metall im ersten Moment gar nicht auf der Haut spürte. Als er es dann tat, war es bereits zu spät. Naitan konnte sich nur zu gut vorstellen, wie der Junge mit einem Gesicht, das zunächst mehr Überraschung als Schmerz ausdrückte, auf das rohe Fleisch des Armes starrte.
Alles in allem betrachtete er seine eigenen paar Dutzend Blutergüsse als vergleichsweise geringen Preis für die vergangenen Wochen. Stolz war er auf die Tatsache, dass er zu den wenigen Neuen gehörte, die nicht jammerten. Obwohl er sich des Nachts noch immer ab und an in den Schlaf weinte. Nach den ersten Tagen, in denen man ihn wie Abschaum behandelt, mit Dreck gefüttert und im Training mit Holzschwertern stundenlang zusammengeschlagen hatte, hatte er sich den Tod gewünscht. Oder wenigstens wieder bei seiner Mutter zu sein.
Doch er hatte all das heruntergeschluckt, bis er nachts leise in seine Armbeuge heulen konnte. Er war hier, weil er es so gewollt hatte. Und er wollte es, allen Widrigkeiten zum Trotz, noch immer. Ob es nur für ein Jahr war, oder um sich eine Zukunft zu erarbeiteten, spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Er würde tun, was ihn sein Vater gelehrt hatte, was einen Nordmann ausmachte. Dem Schicksal aufrecht und unbeugsam entgegentreten und keinen Schritt weichen. Er mochte sich nach einem Jahr geschlagen geben und auf den elterlichen Hof zurückkehren, doch wenn er jetzt klein beigab,