»Ich kannte Fräulein Gautier nur vom Sehen. Ihr Tod beeindruckte mich, wie eben ein junger Mann durch den Tod einer schönen Frau, der er gerne begegnet ist, beeindruckt wird. Ich wollte auf der Versteigerung etwas erwerben und hatte mir dieses Buch in den Kopf gesetzt. Vielleicht nur deshalb, um einen Herrn in Eifer zu bringen, der es darauf abgesehen hatte und es mir anscheinend nicht gönnte. Ich wiederhole, das Buch gehört Ihnen, und ich bitte Sie, es anzunehmen. Aber ich möchte nicht, daß Sie es in der Form von mir in Empfang nehmen, wie ich es beim Auktionator erwarb, vielmehr möge es der Anlaß einer Freundschaft sein und engere, persönlichere Bande zwischen uns knüpfen.« »Gut«, sagte Armand und drückte mir kräftig die Hand. »Ich nehme es an und werde Ihnen mein ganzes Leben dafür dankbar sein.«
Ich hatte gute Lust, Armand über Marguerite zu befragen, denn die Widmung des Buches, die Reise des jungen Mannes, sein Wunsch, dies Buch zu besitzen, all das vergrößerte meine Neugier. Aber ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als habe ich das Geld deshalb nicht genommen, um mir das Recht zu erwerben, mich um die persönlichsten Angelegenheiten meines Besuchers zu kümmern.
Scheinbar erriet er meine Gedanken, denn er fragte mich:
»Sie haben das Buch gelesen?«
»Ja, von der ersten bis zur letzten Seite.«
»Und was haben Sie von den zwei Zeilen gedacht, die ich hineinschrieb?«
»Ich sah sogleich, wie wenig in Ihren Augen das arme Kind, dem Sie dies Buch schenkten, seinen Gefährtinnen glich. Für mich waren die zwei Zeilen mehr als nur ein banales Kompliment.« »Und mit Recht. Das Mädchen war ein Engel. Hier, lesen Sie diesen Brief.«
Er reichte mir ein Schriftstück, das er offenbar schon unzählige Male gelesen hatte. Ich entfaltete es; hier ist sein Inhalt:
»Mein lieber Armand, ich habe Ihren Brief erhalten, Sie schreiben mir so gütig wie früher, und dafür danke ich Gott. Ja, mein Freund, ich bin krank, ich habe ein Leiden, für das es keine Hilfe gibt. Aber die Anteilnahme, die Sie mir beweisen, hat meine Schmerzen um vieles gemildert. Ich werde wohl nicht mehr lange genug leben, um noch einmal beglückt die Hand drücken zu dürfen, die mir den gütigen Brief schrieb, den ich soeben erhielt, und dessen Worte mich heilen würden, wenn mich etwas heilen konnte. Ich werde Sie nicht wiedersehen, denn mein Ende ist nahe, und Hunderte von Meilen trennen uns. Armer Freund, Ihre Marguerite von einst ist sehr verändert. Vielleicht ist es besser, sie nicht wiederzusehen, so wie sie jetzt aussieht. Sie fragen mich, ob ich Ihnen verzeihe? Oh, von ganzem Herzen, mein Freund, denn der Kummer, den Sie mir bereiteten, war ja nur ein Beweis der Liebe, die Sie für mich empfanden. Seit einem Monat hüte ich schon das Bett und rechne so fest mit Ihrer Achtung, daß ich täglich mein Tagebuch führe, seitdem wir uns verlassen haben, bis zu dem Augenblick, an dem ich nicht mehr die Kraft haben werde zu schreiben.
Wenn Ihre Anteilnahme echt ist, Armand, dann gehen Sie nach Ihrer Rückkehr zu Julie Duprat. Sie wird Ihnen mein Tagebuch aushändigen. Sie werden darin die Ursache und die Entschuldigung für das finden, was zwischen uns vorgefallen ist. Julie ist gut zu mir. Wir sprechen oft von Ihnen. Sie war bei mir, als Ihr Brief ankam, und als wir ihn lasen, haben wir geweint. Sie war beauftragt, auch wenn ich keine Nachricht von Ihnen erhalten hätte, Ihnen die Aufzeichnungen zu übergeben, sobald Sie nach Frankreich zurückkehren. Sie brauchen mir nicht dafür zu danken. Die tägliche Erinnerung an die einzig glückliche Zeit meines Lebens bedeutet mir so viel! Wenn Sie in dem Tagebuch die Entschuldigung für Vergangenes finden, so bedeutet das für mich eine immer neue Erleichterung.
Ich würde Ihnen so gerne einige Kleinigkeiten hinterlassen, die mich immer wieder an Sie erinnern. Aber bei mir ist alles gepfändet, und mir gehört nichts mehr. Begreifen Sie, mein Freund? Ich werde sterben, und von meinem Schlafzimmer aus höre ich die Schritte des Wächters im Salon, den meine Gläubiger beauftragt haben aufzupassen, daß man nichts forttrage und damit mir nichts bleibe, für den Fall, daß ich nicht sterbe. Ich kann nur hoffen, daß man mit der Auktion bis nach meinem Tode wartet.
Oh, die Menschen sind mitleidslos! Oder vielmehr, Gott ist gerecht und unnachsichtig.
Nicht wahr, lieber Freund, Sie werden zu meiner Auktion kommen, und Sie werden das eine oder andere für sich kaufen. Denn wenn ich nur den kleinsten Gegenstand für Sie zur Seite legte, und man würde es bemerken, so wäre man imstande, Sie wegen Unterschlagung gepfändeter Sachen zu verklagen.
Es ist ein trauriges Leben, aus dem ich scheide! Möge Gott mir gnädig sein und mir erlauben, Sie, bevor ich sterbe, noch einmal zu sehen. Auf jeden Fall jedoch: Adieu, mein Freund. Verzeihen Sie, daß ich nicht länger schreibe. Aber die mich gesund machen wollen, rauben mir alle Kraft, weil sie mir so oft zur Ader lassen, und meine Hand verweigert weitere Dienste. Marguerite Gautier.«
Die letzten Worte waren wirklich kaum mehr lesbar. Ich gab Armand den Brief zurück, der offenbar, während ich die Worte auf dem Papier las, in Gedanken mitgelesen hatte, denn er sagte, als er den Brief wieder an sich nahm: »Wer würde je glauben, daß ein ausgehaltenes Mädchen dies geschrieben hat?«
Tiefbewegt von seinen Erinnerungen starrte er eine Weile auf die Schriftzüge des Briefes und preßte ihn dann an die Lippen. »Wenn ich bedenke, daß sie starb, ohne daß ich sie wiedersah, daß ich sie nie wiedersehen werde! Wenn ich bedenke, daß sie mehr für mich tat, als eine Schwester je für mich tun könnte, dann kann ich mir nicht verzeihen, daß ich sie so sterben ließ. Tot! Gestorben, in Gedanken an mich, mit meinem Namen auf den Lippen! Arme, geliebte Marguerite!« Armand ließ seinen Gedanken und seinen Tränen freien Lauf, reichte mir die Hand und fuhr fort:
»Man wird mich sehr kindisch finden, weil ich diese Tote so innig beweine. Aber nur, weil man nicht wissen kann, wieviel Leid ich dieser Frau zugefügt habe, wie grausam ich zu ihr war und wie gut und entsagend sie dagegen gewesen ist! Ich glaubte, ihr etwas verzeihen zu müssen. Heute halte ich mich ihrer Verzeihung nicht für würdig. Oh, ich würde zehn Jahre meines Lebens geben, wenn ich eine Stunde zu ihren Füßen weinen dürfte.«
Es ist immer schwer, jemanden zu trösten, dessen Kummer man nicht kennt. Aber der junge Mann war mir so sympathisch, so freimütig sprach er zu mir von seinem Schmerz, daß ich glaubte, meine Worte könnten ihm nicht gleichgültig sein. Ich sagte deshalb: »Haben Sie keine Eltern, keine Freunde? Fassen Sie Mut, gehen Sie zu ihnen, sie werden Sie trösten, denn ich kann Sie nur bedauern.«
»Es ist wahr«, sagte er, erhob sich und ging mit großen Schritten in meinem Zimmer auf und ab, »ich langweile Sie. Verzeihen Sie, aber ich bedachte nicht, daß mein Schmerz Ihnen wenig bedeuten muß, daß ich Sie mit Dingen belästige, die Sie nicht interessieren können,«
»Sie haben mich falsch verstanden. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung. Ich bedauere nur mein Unvermögen, Ihren Schmerz zu lindern. Wenn meine Gesellschaft und die meiner Freunde Sie zerstreuen kann, wenn Sie mich in irgendeiner Weise brauchen können, so seien Sie überzeugt, daß es mir eine Freude sein wird, Ihnen behilflich zu sein.« »Verzeihen Sie, verzeihen Sie«, antwortete er, »Kummer macht überempfindlich. Lassen Sie mich noch einige Minuten hier verweilen, bis ich meine Tränen getrocknet habe. Die Gassenbuben sollen mich nicht wie ein Wundertier angaffen, mich, den großen Jungen, der geweint hat. Sie haben mich sehr glücklich gemacht, weil Sie mir das Buch überlassen haben. Ich weiß nicht, wie ich mich Ihnen jemals dafür erkenntlich zeigen kann.«
»Indem Sie mir ein wenig Ihre Freundschaft schenken«, sagte ich zu Armand, »und mir die Ursache Ihres Kummers erzählen. Es ist schon trostreich, wenn man über das, was einen bedrückt, sprechen kann.«
»Sie haben recht, aber heute würden die Tränen alles ersticken, und ich würde nur Unzusammenhängendes