Ich wende mich an meine Generation, weil die unglückseligen Theorien des Herrn von Voltaire für uns nicht mehr gelten, und an alle jene, die mit mir begreifen, daß seit fünfzehn Jahren die Menschlichkeit einen ungeheuren Aufschwung erlebt. Die Lehre vom Guten und vom Bösen ist für immer abgetan. Der Glaube ist wieder erwacht, die Achtung vor heiligen Dingen ist wieder zurückgekehrt, und wenn die Welt auch nicht absolut gut wird, so wird sie doch besser werden. Die Bemühungen aller denkenden Menschen haben das gleiche Ziel, und alle, die guten Willens sind, haben den gleichen Grundsatz: Wir wollen gut sein, wir wollen rein sein, wir wollen wahrhaftig sein! Das Böse ist nur ein Wahn. Wir müssen mit Stolz das Gute verfechten und dürfen nie verzagen. Wir dürfen nicht die Frau verachten, die weder Mutter noch Schwester noch Tochter noch Gattin ist. Wir dürfen nicht Achtung und Familie, Nachsicht und Egoismus gleichsetzen. Denn im Himmel herrscht mehr Freude über einen reuigen Sünder als über hundert Gerechte, die nie gesündigt haben. Versuchen wir also, dem Himmel Freude zu bereiten. Er kann es uns vielfältig vergelten. Wir wollen das Almosen unseres Verzeihens denen schenken, die durch irdische Begierden gefallen sind, die vielleicht aber durch himmlische Güte gerettet werden können. Es verhält sich damit wie mit einem Heilmittel alter Frauen, die, wenn sie es uns empfehlen, sagen: Wenn es auch vielleicht nicht hilft, so kann es doch nicht schaden. Es mag sicher sehr kühn von mir erscheinen, all das aus den unbedeutenden Tatsachen, die ich hier berichte, abzuleiten. Ich tue es, weil ich glaube, daß in kleinen Dingen alles enthalten ist. Schon das Neugeborene birgt den Mann in sich. Das winzige Gehirn umschließt den kühnen Gedanken. Und das Auge, ein Punkt nur, erfaßt die Weiten des Himmels.
IV
Zwei Tage später war die Auktion abgeschlossen. Hundertfünfzigtausend Francs hatte sie eingebracht. Die Gläubiger teilten sich in zwei Drittel, die Familie, eine Schwester und ein kleiner Neffe erbten den Rest. Die Schwester traute ihren Augen nicht, als der Notar ihr schrieb, sie habe fünfzigtausend Francs geerbt.
Die Geschwister hatten sich sechs oder sieben Jahre lang nicht gesehen. Marguerite war eines Tages spurlos verschwunden, und auch von anderen hatte man nicht das geringste über sie erfahren.
Die Erbin war eilends nach Paris gekommen, und alle, die Marguerite gekannt hatte, sahen als Schwester der Verstorbenen mit Erstaunen ein kräftiges, schönes Landmädchen, das bisher noch nie sein Dorf verlassen hatte. Das Vermögen fiel ihr in den Schoß, und sie ahnte nicht, aus welchen Quellen es ihr unverhofft zugeflossen kam.
Man erzählte mir, sie sei tief betrübt über den Tod ihrer Schwester in ihr Dorf zurückgekehrt, doch linderte das geerbte Geld den Schmerz bald.
Alle diese Ereignisse beschäftigten Paris, die Metropole der Sensationen, einige Zeit, gerieten dann aber in Vergessenheit, und auch ich selbst interessierte mich kaum noch dafür. Da ereignete sich plötzlich etwas, was mich von dem ganzen Leben Marguerites in Kenntnis setzte. Die Einzelheiten sind so erschütternd, daß ich dem Bedürfnis, alles niederzuschreiben, nicht widerstehen kann - und so schreibe ich denn. Seit drei oder vier Tagen war Marguerites leere Wohnung zu vermieten. Da läutete es eines Morgens an meiner Tür. Mein Diener, oder besser, mein Hausmeister, der auch mein Diener war, öffnete und brachte mir eine Visitenkarte. Die Person, die sie ihm gegeben habe, sagte er, wolle mich gerne sprechen. Ich blickte auf die Karte und las die beiden Worte: Armand Duval. Ich überlegte, wo ich diesen Namen schon einmal gelesen hatte, und erinnerte mich: es war auf der ersten Seite von »Manon Lescaut«.
Was konnte der Mensch, der Marguerite dieses Buch geschenkt hatte, von mir wollen? Ich befahl, ihn sofort hereinzuführen.
Vor mir stand ein junger Mann: blond, groß, blaß, in einem Reiseanzug, den er offenbar seit einigen Tagen nicht gewechselt und nicht einmal abgebürstet hatte, denn er war voller Staub.
Herr Duval war sehr bewegt und bemühte sich keineswegs, das zu verbergen. Er hatte Tränen in den Augen, und seine Stimme zitterte, als er mir sagte:
»Ich bitte Sie, zu entschuldigen, daß ich Sie aufsuche und noch dazu in diesem Aufzug. Aber junge Menschen genieren sich voreinander nicht sehr. Ich wünschte so sehnlich, Sie zu sehen, daß ich mir nicht die Zelt nahm, vorher das Hotel aufzusuchen, in das ich meine Koffer geschickt habe. Ich bin sofort zu Ihnen geeilt, denn trotz der frühen Stunde fürchtete ich, Sie nicht zu Hause anzutreffen.«
Ich bat Herrn Duval, am Kamin Platz zu nehmen. Er tat es, während er aus seiner Tasche ein Tuch zog und für Augenblicke sein Gesicht darin verbarg.
»Sie werden sich nicht denken können«, fuhr er mit einem traurigen Lächeln fort, »was dieser unbekannte Besucher, in diesem Aufzug und weinend, wie Sie mich sehen, zu dieser Stunde bei Ihnen sucht? Ich komme ganz einfach mit einer großen Bitte zu Ihnen.«
»Bitte, sprechen Sie nur, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.« »Sie waren auch auf der Versteigerung bei Marguerite Gautier?«
Bei diesen Worten geriet der junge Mann, der sich einen Augenblick gefaßt hatte, erneut in eine so heftige Gemütsbewegung, daß er seine Augen mit den Händen bedecken mußte.
»Ich muß Ihnen sehr lächerlich erscheinen«, fügte er rasch hinzu, »entschuldigen Sie, bitte, und glauben Sie mir, ich werde niemals vergessen, mit wieviel Geduld Sie mich anhören.«
»Wenn der Dienst, den ich Ihnen offenbar erweisen kann«, erwiderte ich, »dazu beiträgt, Ihren Kummer auch nur ein wenig zu mildern, so sagen Sie mir rasch, wie dies geschehen kann, und ich werde mich glücklich schätzen, Ihnen behilflich zu sein.«
Der Schmerz Herrn Duvals weckte meine Sympathie, gern hätte ich ihm etwas Erleichterung verschafft. Darauf sagte er zu mir:
»Sie haben auf der Auktion bei Marguerite etwas gekauft?« »Ja, ein Buch.« »Manon Lescaut?« »Genau das.«
»Haben Sie das Buch noch?« »Es ist in meinem Schlafzimmer.« Armand Duval schien durch diese Nachricht um vieles erleichtert zu sein. Er dankte mir, als hätte ich ihm schon durch den Kauf des Buches einen Dienst erwiesen. Ich erhob mich sogleich, holte das Buch aus meinem Schlafzimmer und gab es ihm.
»Ja, das ist es«, sagte er, als er die Widmung auf der ersten Seite sah, und, weiterblätternd: »Ja, das ist es.« Zwei große Tränen fielen auf die Seiten.
Dann versuchte er nicht mehr, sein Weinen vor mir zu verbergen. Er hob sein tränenüberströmtes Antlitz und fragte mich:
»Liegt Ihnen an diesem Buch sehr viel?«
»Warum?«
»Weil ich Sie bitten möchte, es mir zu überlassen.« «Verzeihen Sie meine Neugier«, sagte ich, »aber: haben Sie es Marguerite geschenkt?« »Ja, ich.«
»Das Buch gehört Ihnen, nehmen Sie es, ich bin glücklich, es in Ihre Hände zurückgeben zu können.« »Aber«, fuhr Herr Duval verlegen fort, »das Geringste, was ich tun kann, ist, Ihnen das Geld zu erstatten, das Sie dafür bezahlt haben.«
»Erlauben Sie mir, es Ihnen zu schenken. Der Preis eines einzelnen Buches bei einer derartigen Versteigerung ist eine Bagatelle. Ich erinnere mich nicht mehr, wieviel ich dafür bezahlt habe.« »Sie