Moritz Ich habe den Kleinen Meyer von A bis Z durchgenommen. Worte – nichts als Worte und Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung. O dieses Schamgefühl! – Was soll mir ein Konversationslexikon, das auf die nächstliegende Lebensfrage nicht antwortet.
Melchior Hast du schon einmal zwei Hunde über die Straße laufen sehen?
Moritz Nein! – – Sag mir lieber heute noch nichts, Melchior. Ich habe noch Mittelamerika und Ludwig den Fünfzehnten vor mir. Dazu die sechzig Verse Homer, die sieben Gleichungen, der lateinische Aufsatz – ich würde morgen wieder überall abblitzen. Um mit Erfolg büffeln zu können, muß ich stumpfsinnig wie ein Ochse sein.
Melchior Komm doch mit auf mein Zimmer. In dreiviertel Stunden habe ich den Homer, die Gleichungen und zwei Aufsätze. Ich korrigiere dir einige harmlose Schnitzer hinein, so ist die Sache im Blei. Mama braut uns wieder eine Limonade, und wir plaudern gemütlich über die Fortpflanzung.
Moritz Ich kann nicht. – Ich kann nicht gemütlich über die Fortpflanzung plaudern! Wenn du mir einen Gefallen tun willst, dann gib mir deine Unterweisungen schriftlich. Schreib mir auf, was du weißt. Schreib es möglichst kurz und klar und steck es mir morgen während der Turnstunde zwischen die Bücher. Ich werde es nach Hause tragen, ohne zu wissen, daß ich es habe. Ich werde es unverhofft einmal wiederfinden. Ich werde nicht umhinkönnen, es müden Auges zu durchfliegen... falls es unumgänglich notwendig ist, magst du ja auch einzelne Randzeichnungen anbringen.
Melchior Du bist wie ein Mädchen. – übrigens wie du willst! Es ist mir das eine ganz interessante Arbeit. – – Eine Frage, Moritz.
Moritz Hm?
Melchior Hast du schon einmal ein Mädchen gesehen?
Moritz Ja!
Melchior Aber ganz?!
Moritz Vollständig!
Melchior Ich nämlich auch! – Dann werden keine Illustrationen nötig sein.
Moritz Während des Schützenfestes, in Leilichs anatomischem Museum! Wenn es aufgekommen wäre, hätte man mich aus der Schule gejagt. – Schön wie der lichte Tag, und – o so naturgetreu!
Melchior Ich war letzten Sommer mit Mama in Frankfurt – Du willst schon gehen, Moritz?
Moritz Arbeiten machen. – Gute Nacht.
Melchior Auf Wiedersehen.
Dritte Szene
Thea, Wendla und Martha- kommen Arm in Arm die Straße herauf.
Martha Wie einem das Wasser ins Schuhwerk dringt!
Wendla Wie einem der Wind um die Wangen saust!
Thea Wie einem das Herz hämmert!
Wendla Gehn wir zur Brücke hinaus! Ilse sagte, der Fluß führe Sträucher und Bäume. Die Jungens haben ein Floß auf dem Wasser. Melchi Gabor soll gestern abend beinah ertrunken sein.
Thea O der kann schwimmen!
Martha Das will ich meinen, Kind!
Wendla Wenn der nicht hätte schwimmen können wäre er wohl sicher ertrunken!
Thea Dein Zopf geht auf, Martha; dein Zopf geht auf!
Martha Puh – laß ihn aufgehn! Er ärgert mich so Tag und Nacht. Kurze Haare tragen wie du darf ich nicht, das Haar offen tragen wie Wendla darf ich nicht, Ponyhaare tragen darf ich nicht, und zu Hause muß ich mir gar die Frisur machen – alles der Tanten wegen!
Wendla Ich bringe morgen eine Schere mit in die Religionsstunde. Während du »Wohl dem, der nicht wandelt« rezitierst, werd' ich ihn abschneiden.
Martha Um Gottes willen, Wendla! Papa schlägt mich krumm, und Mama sperrt mich drei Nächte ins Kohlenloch.
Wendla Womit schlägt er dich, Martha?
Martha Manchmal ist es mir, es müßte ihnen doch etwas abgehen, wenn sie keinen so schlecht gearteten Balg hätten wie ich.
Thea Aber Mädchen!
Martha Hast du dir nicht auch ein himmelblaues Band durch die Hemdpasse ziehen dürfen?
Thea Rosa Atlas! Mama behauptet, Rosa stehe mir bei meinen pechschwarzen Augen.
Martha Mir stand Blau reizend! – Mama riß mich am Zopf zum Bett heraus. So – fiel ich mit den Händen vorauf auf die Diele. – Mama betet nämlich Abend für Abend mit uns...
Wendla Ich an deiner Stelle wäre ihnen längst in die Welt hinausgelaufen.
Martha ... Da habe man's, worauf ich ausgehe! – Da habe man's ja! – Aber sie wolle schon sehen – o sie wolle noch sehen! Meiner Mutter wenigstens solle ich einmal keine Vorwürfe machen können...
Thea Hu – Hu –
Martha Kannst du dir denken, Thea, was Mama damit meinte?
Thea Ich nicht. – Du, Wendla?
Wendla Ich hätte sie einfach gefragt.
Martha Ich lag auf der Erde und schrie und heulte. Da kommt Papa. Ritsch – das Hemd herunter. Ich zur Türe hinaus. Da habe man's. Ich wolle nun wohl so auf die Straße hinunter...
Wendla Das ist doch gar nicht wahr, Martha.
Martha Ich fror. Ich schloß auf. Ich habe die ganze Nacht im Sack schlafen müssen.
Thea Ich könnte meiner Lebtag in keinem Sack schlafen!
Wendla Ich möchte ganz gern mal für dich in deinem Sack schlafen.
Martha Wenn man nur nicht geschlagen wird.
Thea Aber man erstickt doch darin!
Martha Der Kopf bleibt frei. Unter dem Kinn wird zugebunden.
Thea Und dann schlagen sie dich?
Martha Nein. Nur wenn etwas Besonderes vorliegt.
Wendla Womit schlägt man dich, Martha?
Martha Ach was – mit allerhand. – Hält es deine Mutter auch für unanständig, im Bett ein Stück Brot zu essen?
Wendla Nein, nein.
Martha Ich glaube immer, sie haben doch ihre Freude – wenn sie auch nichts davon sagen. – Wenn ich einmal Kinder habe, ich lasse sie aufwachsen wie das Unkraut in unserem Blumengarten. Um das kümmert sich niemand, und es steht so hoch, so dicht – während die Rosen in den Beeten an ihren Stöcken mit jedem Sommer kümmerlicher blühn.
Thea Wenn ich Kinder habe, kleid' ich sie ganz in Rosa, Rosahüte, Rosakleidchen, Rosaschuhe. Nur die Strümpfe – die Strümpfe schwarz wie die Nacht! Wenn ich dann spazierengehe, laß ich sie vor mir hermarschieren. – Und du, Wendla?
Wendla Wißt ihr denn, ob ihr welche bekommt?
Thea Warum sollten wir keine bekommen?
Martha Tante Euphemia hat allerdings auch keine.
Thea Gänschen! – weil sie nicht verheiratet ist.
Wendla Tante Bauer war dreimal verheiratet und hat nicht ein einziges.
Martha Wenn du welche bekommst, Wendla, was möchtest du lieber, Knaben oder Mädchen?
Wendla Jungens! Jungens!
Thea Ich auch Jungens!
Martha Ich auch. Lieber zwanzig Jungens als drei Mädchen.
Thea Mädchen sind langweilig!
Martha