Frühlings Erwachen. Франк Ведекинд. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Франк Ведекинд
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754180631
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Glaubst du an Vorbedeutungen?

      Moritz Ich weiß nicht recht. – – Sie kam von drüben her. Es hat nichts zu sagen.

      Melchior Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die jeder stürzt, der sich aus der Skylla religiösen Irrwahns emporgerungen. – – Laß uns hier unter der Buche Platz nehmen. Der Tauwind fegt über die Berge. Jetzt möchte ich droben im Wald eine junge Dryade sein, die sich die ganze lange Nacht in den höchsten Wipfeln wiegen und schaukeln läßt.

      Moritz Knöpf dir die Weste auf, Melchior!

      Melchior Ha – wie das einem die Kleider bläht!

      Moritz Es wird weiß Gott so stockfinster, daß man die Hand nicht vor den Augen sieht. Wo bist du eigentlich? – – Glaubst du nicht auch, Melchior, daß das Schamgefühl im Menschen nur ein Produkt seiner Erziehung ist?

      Melchior Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht. Es scheint mir immerhin tief eingewurzelt in der menschlichen Natur. Denke dir, du sollst dich vollständig entkleiden vor deinem besten Freund. Du wirst es nicht tun, wenn er es nicht zugleich auch tut. – Es ist eben auch mehr oder weniger Modesache.

      Moritz Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder habe, Knaben und Mädchen, so lasse ich sie von früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich auf ein und demselben Lager, zusammenschlafen, lasse ich sie morgens und abends beim An- und Auskleiden einander behilflich sein und in der heißen Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die Mädchen, tagsüber nichts als eine kurze, mit einem Lederriemen gegürtete Tunika aus weißem Wollstoff tragen. – Mir ist, sie müßten, wenn sie so heranwachsen, später ruhiger sein, als wir es in der Regel sind.

      Melchior Das glaube ich entschieden, Moritz! – Die Frage ist nur, wenn die Mädchen Kinder bekommen, was dann?

      Moritz Wieso Kinder bekommen?

      Melchior Ich glaube in dieser Hinsicht nämlich an einen gewissen Instinkt. Ich glaube, wenn man einen Kater zum Beispiel mit einer Katze von Jugend auf zusammensperrt und beide von jedem Verkehr mit der Außenwelt fernhält, d. h. sie ganz nur ihren eigenen Trieben überläßt – daß die Katze früher oder später doch einmal trächtig wird, obgleich sie sowohl wie der Kater niemand hatten, dessen Beispiel ihnen hätte die Augen öffnen können.

      Moritz Bei Tieren muß sich das ja schließlich von selbst ergeben.

      Melchior Bei Menschen glaube ich erst recht! Ich bitte dich, Moritz, wenn deine Knaben mit den Mädchen auf ein und demselben Lager schlafen und es kommen ihnen nun unversehens die ersten männlichen Regungen – ich möchte mit jedermann eine Wette eingehen...

      Moritz Darin magst du recht haben. – Aber immerhin...

      Melchior Und bei deinen Mädchen wäre es im entsprechenden Alter vollkommen das nämliche! Nicht, daß das Mädchen gerade... man kann das ja freilich so genau nicht beurteilen... Jedenfalls wäre vorauszusetzen... und die Neugierde würde das ihrige zu tun auch nicht verabsäumen!

      Moritz Eine Frage beiläufig –

      Melchior Nun?

      Moritz Aber du antwortest?

      Melchior Natürlich!

      Moritz Wahr?!

      Melchior Meine Hand darauf. – – Nun, Moritz?

      Moritz Hast du den Aufsatz schon??

      Melchior So sprich doch frisch von der Leber weg! – Hier hört und sieht uns ja niemand.

      Moritz Selbstverständlich müßten meine Kinder nämlich tagsüber arbeiten, in Hof und Garten, oder sich durch Spiele zerstreuen, die mit körperlicher Anstrengung verbunden sind. Sie müßten reiten, turnen, klettern und vor allen Dingen nachts nicht so weich schlafen wie wir. Wir sind schrecklich verweichlicht. – Ich glaube, man träumt gar nicht, wenn man hart schläft.

      Melchior Ich schlafe von jetzt bis nach der Weinlese überhaupt nur in meiner Hängematte. Ich habe mein Bett hinter den Ofen gestellt. Es ist zum Zusammenklappen. – Vergangenen Winter träumte mir einmal, ich hätte unsern Lolo so lange gepeitscht, bis er kein Glied mehr rührte. Das war das Grauenhafteste, was ich je geträumt habe. – Was siehst du mich so sonderbar an?

      Moritz Hast du sie schon empfunden?

      Melchior Was?

      Moritz Wie sagtest du?

      Melchior Männliche Regungen?

      Moritz M-hm.

      Melchior – Allerdings!

      Moritz Ich auch – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

      Melchior Ich kenne das nämlich schon lange! – Schon bald ein Jahr.

      Moritz Ich war wie vom Blitz gerührt.

      Melchior Du hattest geträumt?

      Moritz Aber nur ganz kurz... von Beinen im himmelblauen Trikot, die über das Katheder steigen – um aufrichtig zu sein, ich dachte, sie wollten hinüber. – Ich habe sie nur flüchtig gesehen.

      Melchior Georg Zirschnitz träumte von seiner Mutter.

      Moritz Hat er dir das erzählt?

      Melchior Draußen am Galgensteg!

      Moritz Wenn du wüßtest, was ich ausgestanden seit jener Nacht!

      Melchior Gewissensbisse?

      Moritz Gewissensbisse?? – – – Todesangst!

      Melchior Herrgott...

      Moritz Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte, ich litte an einem inneren Schaden. – Schließlich wurde ich nur dadurch wieder ruhiger, daß ich meine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen begann. Ja, ja, lieber Melchior, die letzten drei Wochen waren ein Gethsemane für mich.

      Melchior Ich war seinerzeit mehr oder weniger darauf gefaßt gewesen. Ich schämte mich ein wenig. – Das war aber auch alles.

      Moritz Und dabei bist du noch fast um ein ganzes Jahr jünger als ich!

      Melchior Darüber, Moritz, würd' ich mir keine Gedanken machen. All meinen Erfahrungen nach besteht für das erste Auftauchen dieser Phantome keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen Lämmermeier mit dem strohgelben Haar und der Adlernase? Drei Jahre ist der älter als ich. Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis heute von nichts als Sandtorten und Aprikosengelee.

      Moritz Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow darüber urteilen!

      Melchior Er hat ihn gefragt.

      Moritz Er hat ihn gefragt? – Ich hätte mich nicht getraut, jemanden zu fragen.

      Melchior Du hast mich doch auch gefragt.

      Moritz Weiß Gott ja! – Möglicherweise hatte Hänschen auch schon sein Testament gemacht. – Wahrlich ein sonderbares Spiel, das man mit uns treibt. Und dafür sollen wir uns dankbar erweisen! Ich erinnere mich nicht, je eine Sehnsucht nach dieser Art Aufregung verspürt zu haben. Warum hat man mich nicht ruhig schlafen lassen, bis alles wieder still gewesen wäre. Meine lieben Eltern hätten hundert bessere Kinder haben können. So bin ich nun hergekommen, ich weiß nicht, wie, und soll mich dafür verantworten, daß ich nicht weggeblieben bin. – Hast du nicht auch schon darüber nachgedacht, Melchior, auf welche Art und Weise wir eigentlich in diesen Strudel hineingeraten?

      Melchior Du weißt das also noch nicht, Moritz?

      Moritz Wie sollt' ich es wissen? – Ich sehe, wie die Hühner Eier legen, und höre, daß mich Mama unter dem Herzen getragen haben will. Aber genügt denn das? – Ich erinnere mich auch, als fünfjähriges Kind schon befangen worden zu sein, wenn einer die dekolletierte Coeurdame aufschlug. Dieses Gefühl hat sich verloren. Indessen kann ich heute kaum mehr