Damit es uns Kindern aber ja nicht an dem Allerlei des Lebens und Lernens fehlen möchte, so mußte sich gerade um diese Zeit ein englischer Sprachmeister melden, welcher sich anheischig machte, innerhalb vier Wochen einen jeden, der nicht ganz roh in Sprachen sei, die englische zu lehren und ihn so weit zu bringen, daß er sich mit einigem Fleiß weiter helfen könne. Er nahm ein mäßiges Honorar; die Anzahl der Schüler in einer Stunde war ihm gleichgültig. Mein Vater entschloß sich auf der Stelle, den Versuch zu machen, und nahm mit mir und meiner Schwester bei dem expediten Meister Lektion. Die Stunden wurden treulich gehalten, am Repetieren fehlte es auch nicht; man ließ die vier Wochen über eher einige andere Übungen liegen; der Lehrer schied von uns und wir von ihm mit Zufriedenheit. Da er sich länger in der Stadt aufhielt und viele Kunden fand, so kam er von Zeit zu Zeit nachzusehen und nachzuhelfen, dankbar, daß wir unter die ersten gehörten, welche Zutrauen zu ihm gehabt, und stolz, uns den übrigen als Muster anführen zu können.
In Gefolg von diesem hegte mein Vater eine neue Sorgfalt, daß auch das Englische hübsch in der Reihe der übrigen Sprachbeschäftigungen bliebe. Nun bekenne ich, daß es mir immer lästiger wurde, bald aus dieser bald aus jener Grammatik oder Beispielsammlung, bald aus diesem oder jenem Autor den Anlaß zu meinen Arbeiten zu nehmen, und so meinen Anteil an den Gegenständen zugleich mit den Stunden zu verzetteln. Ich kam daher auf den Gedanken, alles mit einmal abzutun, und erfand einen Roman von sechs bis sieben Geschwistern, die, von einander entfernt und in der Welt zerstreut, sich wechselseitig Nachricht von ihren Zuständen und Empfindungen mitteilen. Der älteste Bruder gibt in gutem Deutsch Bericht von allerlei Gegenständen und Ereignissen seiner Reise. Die Schwester, in einem frauenzimmerlichen Stil, mit lauter Punkten und in kurzen Sätzen, ungefähr wie nachher »Siegwart« geschrieben wurde, erwidert bald ihm, bald den andern Geschwistern, was sie teils von häuslichen Verhältnissen, teils von Herzensangelegenheiten zu erzählen hat. Ein Bruder studiert Theologie und schreibt ein sehr förmliches Latein, dem er manchmal ein griechisches Postskript hinzufügt. Einem folgenden, in Hamburg als Handlungsdiener angestellt, ward natürlich die englische Korrespondenz zuteil, so wie einem jüngern, der sich in Marseille aufhielt, die französische. Zum Italienischen fand sich ein Musikus auf seinem ersten Ausflug in die Welt, und der jüngste, eine Art von naseweisem Nestquackelchen, hatte, da ihm die übrigen Sprachen abgeschnitten waren, sich aufs Judendeutsch gelegt, und brachte durch seine schrecklichen Chiffern die übrigen in Verzweiflung und die Eltern über den guten Einfall zum Lachen.
Für diese wunderliche Form suchte ich mir einigen Gehalt, indem ich die Geographie der Gegenden, wo meine Geschöpfe sich aufhielten, studierte, und zu jenen trockenen Lokalitäten allerlei Menschlichkeiten hinzu erfand, die mit dem Charakter der Personen und ihrer Beschäftigung einige Verwandtschaft hatten. Auf diese Weise wurden meine Exerzitienbücher viel voluminöser; der Vater war zufriedener, und ich ward eher gewahr, was mir an eigenem Vorrat und an Fertigkeiten abging.
Wie nun dergleichen Dinge, wenn sie einmal im Gange sind, kein Ende und keine Grenzen haben, so ging es auch hier: denn indem ich mir das barocke Judendeutsch zuzueignen und es ebenso gut zu schreiben suchte, als ich es lesen konnte, fand ich bald, daß mir die Kenntnis des Hebräischen fehlte, wovon sich das moderne verdorbene und verzerrte allein ableiten und mit einiger Sicherheit behandeln ließ. Ich eröffnete daher meinem Vater die Notwendigkeit, Hebräisch zu lernen, und betrieb sehr lebhaft seine Einwilligung: denn ich hatte noch einen höhern Zweck. Überall hörte ich sagen, daß zum Verständnis des Alten Testaments so wie des Neuen die Grundsprachen nötig wären. Das letzte las ich ganz bequem, weil die sogenannten Evangelien und Episteln, damit es ja auch Sonntags nicht an Übung fehle, nach der Kirche rezitiert, übersetzt und einigermaßen erklärt werden mußten. Ebenso dachte ich es nun auch mit dem Alten Testamente zu halten, das mir wegen seiner Eigentümlichkeit ganz besonders von jeher zugesagt hatte.
Mein Vater, der nicht gern etwas halb tat, beschloß, den Rektor unseres Gymnasiums, Doktor Albrecht, um Privatstunden zu ersuchen, die er mir wöchentlich so lange geben sollte, bis ich von einer so einfachen Sprache das Nötigste gefaßt hätte; denn er hoffte, sie werde, wo nicht so schnell, doch wenigstens in doppelter Zeit als die englische sich abtun lassen.
Der Rektor Albrecht war eine der originalsten Figuren von der Welt, klein, nicht dick aber breit, unförmlich ohne verwachsen zu sein, kurz ein Äsop mit Chorrock und Perücke. Sein über-siebzigjähriges Gesicht war durchaus zu einem sarkastischen Lächeln verzogen, wobei seine Augen immer groß blieben und, obgleich rot, doch immer leuchtend und geistreich waren. Er wohnte in dem alten Kloster zu den Barfüßern, dem Sitz des Gymnasiums. Ich hatte schon als Kind, meine Eltern begleitend, ihn manchmal besucht, und die langen dunklen Gänge, die in Visitenzimmer verwandelten Kapellen, das unterbrochne treppen- und winkelhafte Lokal mit schaurigem Behagen durchstrichen. Ohne mir unbequem zu sein, examinierte er mich, so oft er mich sah, und lobte und ermunterte mich. Eines Tages, bei der Translokation nach öffentlichem Examen, sah er mich als einen auswärtigen Zuschauer, während er die silbernen praemia virtutis et diligentiae austeilte, nicht weit von seinem Katheder stehen. Ich mochte gar sehnlich nach dem Beutelchen blicken, aus welchem er die Schaumünzen hervorzog; er winkte mir, trat eine Stufe herunter und reichte mir einen solchen Silberling. Meine Freude war groß, obgleich andre wo diese einem Nicht-Schulknaben gewährte Gabe außer aller Ordnung fanden. Allein daran war dem guten Alten wenig gelegen, der überhaupt den Sonderling und zwar in einer auffallenden Weise spielte. Er hatte als Schulmann einen sehr guten Ruf und verstand sein Handwerk, ob ihm gleich das Alter solches auszuüben nicht mehr ganz gestattete. Aber beinahe noch mehr als durch eigene Gebrechlichkeit fühlte er sich durch äußere Umstände gehindert, und wie ich schon früher wußte, war er weder mit dem Konsistorium, noch den Scholarchen, noch den Geistlichen, noch auch den Lehrern zufrieden. Seinem Naturell, das sich zum Aufpassen auf Fehler und Mängel und zur Satire hinneigte, ließ er sowohl in Programmen als in öffentlichen Reden freien Lauf, und wie Lucian fast der einzige Schriftsteller war, den er las und schätzte, so würzte er alles, was er sagte und schrieb, mit beizenden Ingredienzien.
Glücklicherweise für diejenigen, mit welchen er unzufrieden war, ging er niemals direkt zu Werke, sondern schraubte nur mit Bezügen, Anspielungen, klassischen Stellen und biblischen Sprüchen auf die Mängel hin, die er zu rügen gedachte. Dabei war sein mündlicher Vortrag (er las seine Reden jederzeit ab) unangenehm, unverständlich, und über alles dieses manchmal durch einen Husten, öfters aber durch ein hohles bauchschütterndes Lachen unterbrochen, womit er die beißenden Stellen anzukündigen und zu begleiten pflegte. Diesen seltsamen Mann fand ich mild und willig, als ich anfing, meine Stunden bei ihm zu nehmen. Ich ging nun täglich abends um 6 Uhr zu ihm, und fühlte immer ein heimliches Behagen wenn sich die Klingeltüre hinter mir schloß, und ich nun den langen düsteren Klostergang durchzuwandeln hatte. Wir saßen in seiner Bibliothek an einem mit Wachstuch beschlagenen Tische; ein sehr durchlesener Lucian kam nie von seiner Seite.
Ohngeachtet alles Wohlwollens gelangte ich doch nicht ohne Einstand zur Sache: denn mein Lehrer konnte gewisse spöttische Anmerkungen, und was es denn mit dem Hebräischen eigentlich solle, nicht unterdrücken. Ich verschwieg ihm die Absicht auf das Judendeutsch, und sprach von besserem Verständnis des Grundtextes. Darauf lächelte er und meinte, ich solle schon zufrieden sein, wenn ich nur lesen lernte. Dies verdroß mich im stillen, und ich nahm alle meine Aufmerksamkeit zusammen, als es an die Buchstaben kam. Ich fand ein Alphabet, das ungefähr dem griechischen zur Seite ging, dessen Gestalten faßlich, dessen Benennungen mir zum größten Teil nicht fremd waren. Ich hatte dies alles sehr bald begriffen und behalten, und dachte, es sollte nun ans Lesen gehen. Daß dieses von der rechten zur linken Seite geschehe, war mir wohl bewußt. Nun aber trat auf einmal ein neues Heer von kleinen Buchstäbchen und Zeichen hervor, von Punkten und Strichelchen aller Art, welche eigentlich die Vokale vorstellen sollten, worüber ich mich um so mehr verwunderte, als sich in dem größern Alphabete offenbar Vokale befanden, und die übrigen nur unter fremden Benennungen verborgen zu sein schienen. Auch ward gelehrt, daß die jüdische Nation, solange sie geblüht, wirklich sich mit jenen ersten Zeichen begnügt und keine andere Art zu schreiben und zu lesen gekannt habe. Ich wäre nun gar zu gern auf diesem altertümlichen, wie mir schien bequemeren Wege gegangen; allein mein Alter erklärte etwas streng: man müsse nach