Viertes Buch
So viel Unbequemlichkeit uns auch die französische Einquartierung mochte verursacht haben, so waren wir sie doch zu gewohnt geworden, als daß wir sie nicht hätten vermissen, daß uns Kindern das Haus nicht hätte tot scheinen sollen. Auch war es uns nicht bestimmt, wieder zur völligen Familieneinheit zu gelangen. Neue Mietleute waren schon besprochen, und nach einigem Kehren und Scheuern, Hobeln und Bohnen, Malen und Anstreichen war das Haus völlig wieder hergestellt. Der Kanzleidirektor Moritz mit den Seinigen, sehr werte Freunde meiner Eltern, zogen ein. Dieser, kein geborner Frankfurter, aber ein tüchtiger Jurist und Geschäftsmann, besorgte die Rechtsangelegenheiten mehrerer kleinen Fürsten, Grafen und Herren. Ich habe ihn niemals anders als heiter und gefällig und über seinen Akten emsig gesehen. Frau und Kinder, sanft, still und wohlwollend, vermehrten zwar nicht die Geselligkeit in unserm Hause: denn sie blieben für sich; aber es war eine Stille, ein Friede zurückgekehrt, den wir lange Zeit nicht genossen hatten. Ich bewohnte nun wieder mein Mansardzimmer, in welchem die Gespenster der vielen Gemälde mir zuweilen vorschwebten, die ich denn durch Arbeiten und Studien zu verscheuchen suchte.
Der Legationsrat Moritz, ein Bruder des Kanzleidirektors, kam von jetzt an auch öfters in unser Haus. Er war schon mehr Weltmann, von einer ansehnlichen Gestalt und dabei von bequem gefälligem Betragen. Auch er besorgte die Angelegenheiten verschiedener Standespersonen, und kam mit meinem Vater, bei Anlaß von Konkursen und kaiserlichen Kommissionen, mehrmals in Berührung. Beide hielten viel auf einander, und standen gemeiniglich auf der Seite der Kreditoren, mußten aber zu ihrem Verdruß gewöhnlich erfahren, daß die Mehrheit der bei solcher Gelegenheit Abgeordneten für die Seite der Debitoren gewonnen zu werden pflegt. Der Legationsrat teilte seine Kenntnisse gern mit, war ein Freund der Mathematik, und weil diese in seinem gegenwärtigen Lebensgange gar nicht vorkam, so machte er sich ein Vergnügen daraus, mir in diesen Kenntnissen weiter zu helfen. Dadurch ward ich in den Stand gesetzt, meine architektonischen Risse genauer als bisher auszuarbeiten, und den Unterricht eines Zeichenmeisters, der uns jetzt auch täglich eine Stunde beschäftigte, besser zu nutzen.
Dieser gute alte Mann war freilich nur ein Halbkünstler. Wir mußten Striche machen und sie zusammensetzen, woraus denn Augen und Nasen, Lippen und Ohren, ja zuletzt ganze Gesichter und Köpfe entstehen sollten; allein es war dabei weder an natürliche noch künstliche Form gedacht. Wir wurden eine Zeitlang mit diesem Qui pro Quo der menschlichen Gestalt gequält, und man glaubte uns zuletzt sehr weit gebracht zu haben, als wir die sogenannten Affekten von Lebrun zur Nachzeichnung erhielten. Aber auch diese Zerrbilder förderten uns nicht. Nun schwankten wir zu den Landschaften, zum Baumschlag und zu allen den Dingen, die im gewöhnlichen Unterricht ohne Folge und ohne Methode geübt werden. Zuletzt fielen wir auf die genaue Nachahmung und auf die Sauberkeit der Striche, ohne uns weiter um den Wert des Originals oder dessen Geschmack zu bekümmern.
In diesem Bestreben ging uns der Vater auf eine musterhafte Weise vor. Er hatte nie gezeichnet, wollte nun aber, da seine Kinder diese Kunst trieben, nicht zurückbleiben, sondern ihnen, selbst in seinem Alter, ein Beispiel geben, wie sie in ihrer Jugend verfahren sollten. Er kopierte also einige Köpfe des Piazzetta, nach dessen bekannten Blättern in klein Oktav, mit englischem Bleistift auf das feinste holländische Papier. Er beobachtete dabei nicht allein die größte Reinlichkeit im Umriß, sondern ahmte auch die Schraffierung des Kupferstichs aufs genauste nach, mit einer leichten Hand, nur allzu leise, da er denn, weil er die Härte vermeiden wollte, keine Haltung in seine Blätter brachte. Doch waren sie durchaus zart und gleichförmig. Sein anhaltender unermüdlicher Fleiß ging so weit, daß er die ganze ansehnliche Sammlung nach allen ihren Nummern durchzeichnete, indessen wir Kinder von einem Kopf zum andern sprangen und uns nur die auswählten, die uns gefielen.
Um diese Zeit ward auch der schon längst in Beratung gezogne Vorsatz, uns in der Musik unterrichten zu lassen, ausgeführt; und zwar verdient der letzte Anstoß dazu wohl einige Erwähnung. Daß wir das Klavier lernen sollten, war ausgemacht; allein über die Wahl des Meisters war man immer streitig gewesen. Endlich komme ich einmal zufälligerweise in das Zimmer eines meiner Gesellen, der eben Klavierstunde nimmt, und finde den Lehrer als einen ganz allerliebsten Mann. Für jeden Finger der rechten und linken Hand hat er einen Spitznamen, womit er ihn aufs lustigste bezeichnet, wenn er gebraucht werden soll. Die schwarzen und weißen Tasten werden gleichfalls bildlich benannt, ja die Töne selbst erscheinen unter figürlichen Namen. Eine solche bunte Gesellschaft arbeitet nun ganz vergnüglich durcheinander. Applikatur und Takt scheinen ganz leicht und anschaulich zu werden, und indem der Schüler zu dem besten Humor aufgeregt wird, geht auch alles zum schönsten vonstatten.
Kaum war ich nach Hause gekommen, als ich den Eltern anlag, nunmehr Ernst zu machen und uns diesen unvergleichlichen Mann zum Klaviermeister zu geben. Man nahm noch einigen Anstand, man erkundigte sich; man hörte zwar nichts Übles von dem Lehrer, aber auch nichts sonderlich Gutes. Ich hatte indessen meiner Schwester alle die lustigen Benennungen erzählt, wir konnten den Unterricht kaum erwarten, und setzten es durch, daß der Mann angenommen wurde.
Das Notenlesen ging zuerst an, und als dabei kein Spaß vorkommen wollte, trösteten wir uns mit der Hoffnung, daß, wenn es erst ans Klavier gehen würde, wenn es an die Finger käme, das scherzhafte Wesen seinen Anfang nehmen würde. Allein weder Tastatur noch Fingersetzung schien zu einigem Gleichnis Gelegenheit zu geben. So trocken wie die Noten, mit ihren Strichen auf und zwischen den fünf Linien, blieben auch die schwarzen und weißen Claves, und weder von einem Däumerling noch Deuterling noch Goldfinger war mehr eine Silbe zu hören; und das Gesicht verzog der Mann so wenig beim trocknen Unterricht, als er es vorher beim trocknen Spaß verzogen hatte. Meine Schwester machte mir die bittersten Vorwürfe, daß ich sie getäuscht habe, und glaubte wirklich, es sei nur Erfindung von mir gewesen. Ich war aber selbst betäubt und lernte wenig, ob der Mann gleich ordentlich genug zu Werke ging: denn ich wartete immer noch, die frühern Späße sollten zum Vorschein kommen, und vertröstete meine Schwester von einem Tage zum andern. Aber sie blieben aus, und ich hätte mir dieses Rätsel niemals erklären können, wenn es mir nicht gleichfalls ein Zufall aufgelöst hätte.
Einer meiner Gespielen trat herein, mitten in der Stunde, und auf einmal eröffneten sich die sämtlichen Röhren des humoristischen Springbrunnens; die Däumerlinge und Deuterlinge, die Krabler und Zabler, wie er die Finger zu bezeichnen pflegte, die Fakchen und Gakchen, wie er z.B. die Noten f und g, die Fiekchen und Giekchen, wie er fis und gis benannte, waren auf einmal wieder vorhanden und machten die wundersamsten Männerchen. Mein junger Freund kam nicht aus dem Lachen, und freute sich, daß man auf eine so lustige Weise so viel lernen könne. Er schwur, daß er seinen Eltern keine Ruhe lassen würde, bis sie ihm einen solchen vortrefflichen Mann zum Lehrer gegeben.
Und so war mir, nach den Grundsätzen einer neuern Erziehungslehre, der Weg zu zwei Künsten früh genug eröffnet, bloß auf gut Glück, ohne Überzeugung, daß ein angebornes Talent mich darin weiter fördern könne. Zeichnen müsse jedermann lernen, behauptete mein Vater, und verehrte deshalb besonders Kaiser Maximilian, welcher dieses ausdrücklich solle befohlen haben. Auch hielt er mich ernstlicher dazu an als zur Musik, welche er dagegen meiner Schwester vorzüglich empfahl, ja dieselbe außer ihren Lehrstunden eine ziemliche Zeit des Tages am Klaviere festhielt.
Je mehr ich aber auf diese Weise zu treiben veranlaßt wurde, desto mehr wollte ich treiben, und selbst die Freistunden wurden zu allerlei wunderlichen Beschäftigungen verwendet. Schon seit meinen frühsten Zeiten fühlte ich einen Untersuchungstrieb gegen natürliche Dinge. Man legt es manchmal als eine Anlage zur Grausamkeit aus, daß Kinder solche Gegenstände, mit denen sie eine Zeitlang gespielt, die sie bald so, bald so gehandhabt, endlich zerstücken, zerreißen und zerfetzen. Doch pflegt sich auch die Neugierde, das Verlangen, zu erfahren wie solche Dinge zusammenhängen, wie sie inwendig aussehen, auf diese Weise an den Tag zu legen. Ich erinnere mich, daß ich als Kind Blumen zerpflückt, um zu sehen, wie die Blätter in den Kelch, oder auch Vögel berupft, um zu beobachten, wie die Federn in die Flügel eingefügt waren. Ist doch Kindern dieses nicht zu verdenken, da ja selbst Naturforscher öfter durch Trennen und Sondern als durch Vereinigen und Verknüpfen, mehr durch Töten als durch Beleben sich zu unterrichten glauben.
Ein bewaffneter Magnetstein, sehr zierlich