Nachdem es zu einer Art Waffenstillstand gekommen war, hatte eine dritte Seite einen Cleaner geschickt, der die noch umherirrenden Auftragskiller beider Seiten unauffällig beseitigt hatte, Unfälle, unglückselige Verkettungen von Umständen, so hatte es ausgesehen.
Nur eben nicht für ihn. Jansen hatte die Spur des Cleaners bis nach London verfolgen können, nachdem diese dritte mysteriöse Macht ihn fast im Wattenmeer kaltgestellt hätte.
Hier, in den Schaltzentralen des Kapitals, saßen Leute, die dafür sorgten, dass stets alles reibungslos ablief; ein Unternehmen oder eine Gruppe, der es dafür auf ein paar Menschenleben nicht ankam. Kollateralschäden für den permanent reibungslosen Ablauf der Wirtschaft und der Gewinnmaximierung, bei dem die Partikularinteressen von Russengas und Fracking-Gas aus den USA nur störten.
Er hatte keine Ahnung, wer dahintersteckte; eine große Versicherungsgruppe oder ein schattiger Rückversicherer? Ein diskreter Zirkel der Finanzwelt, dem es um die Stabilität des Aktienmarktes ging?
Deswegen war er diesmal nicht hier. Seine Familie war damals, als der Cleaner zugeschlagen hatte, auf den Kapverdischen Inseln in einem Safe House untergebracht gewesen. Dort hatte es seiner Frau Lisa und den Zwillingen so gut gefallen, dass sie jetzt dort ihren Sommerurlaub verbrachten, und genau dort wollte er hin.
Dennoch hatte er sich zwei Tage Aufenthalt in London gegönnt, bevor es weiterging. Außerdem hatte er bei dieser Flugverbindung noch dreihundert Euro eingespart, für einen Kommissar durchaus lohnend.
Er hatte ein paar schwache Spuren, die in den Sumpf der City führten, in den Moloch des im Dunklen wirkenden Geldes.
Der Airbus flog jetzt über Hammersmith und setzte zur Landung an. Jansen schnallte sich an.
Was soll’s, dachte er sich. Dafür ist später auch noch genug Zeit. Ich miete mir ein Auto und fahre nach Schottland. Eine Spur hatte auch dorthin geführt, die inzwischen zwar nicht mehr wichtig war, an die er sich aber dennoch gut erinnerte; ein teurer Single-Malt-Whisky war damals im Spiel gewesen, dessen leergetrunkene Flasche ein Rocker bei einem Angriff auf eine Gasverteileranlage bei Esens als Molotow-Cocktail benutzt hatte. Blair Athol hieß er, die Flasche für achthundert Euro, handsigniert, mit nur einer Flasche pro Kunden.
Sein Freund und Kollege Werner Heim hatte ihm als Ergänzung seines BKA-Ausweises eine Karte von Interpol besorgt, mit der er schneller durch die komplizierten Nach-Brexit-Kontrollen kam als die anderen Reisenden, die in langen Schlangen geduldig warteten.
Flüge nach Edinburgh gingen vom selben Terminal 5 ab. Er musste wieder hoch zum Abflug; es gab Flüge im Standby, sogar einen günstigen, und er konnte gleich zum Gate durchgehen. Das Gepäck flog weiter nach Praia auf den Kapverden, mit Handgepäck ging alles viel schneller. Mehr brauchte er für zwei Tage nicht.
Nach der Ankunft in Schottland mietete er sich einen Landrover und fuhr los, Richtung Pitlochry, an Perth vorbei, das es nicht nur in Australien gab, wie er erstaunt feststellte.
Gegessen hatte er im Flieger genug. Es war Nachmittag, die Fahrt sollte laut Navi eine Stunde und zwanzig Minuten in Anspruch nehmen. Ein Kinderspiel. Jansen streckte sich, knackte mit den Fingerknöcheln, machte ein paar Dehnübungen und angedeutete Karateschläge und zwängte seine Einsneunzig hinter das Steuer.
Beim Linksabbiegen und nach einem Kreisel bog er jeweils einmal auf die rechte statt auf die linke Spur ab, bevor er sich ans Linksfahren gewöhnt hatte. Und einmal hätte er aus Versehen statt zu schalten fast die Tür geöffnet; mit links zu schalten war sehr ungewohnt.
Warum machten die Schotten das mit, diesen Linksverkehr, dachte er. Die sind doch sonst so vernünftig und europafreundlich, anders als die Engländer mit ihrem Brexit.
Anderthalb Stunden später stand er auf einem leeren Parkplatz vor der Brennerei, wo der Stoff herkam. Blair Athol war nicht nur ein Whisky, sondern auch der Name eines Schlosses in der Nähe, wie ein Hinweisschild anzeigte.
Das Gebäude hatte bereits geschlossen, obwohl es noch nicht achtzehn Uhr war; Jansen fragte in seinem gebrochenen Englisch einen Einheimischen, den er kaum verstand, der ihm aber klarmachte, dass er den Whisky auch im Hotel bekommen würde. Er schickte ihn zum Hydro Hotel, das aussah wie das Klubhaus eines Golfklubs.
Am nächsten Morgen, nach einem ungewohnt fetten englischen Frühstück, war er der Erste, der sich für eine Führung anmeldete. Zu viel probieren durfte er nicht, wenn er zurück nach Edinburgh fahren wollte. Besser früh anfangen, hatte er sich ausgerechnet, dann bist du nachher wieder nüchtern.
Im Verkaufsraum, von wo aus die Führung starten sollte, fühlte Jansen sich betrogen. Angeboten wurden fast ausschließlich amerikanische Whiskeys, und das in Schottland; Johnny Walker und Bell’s.
Er fragte sich durch. Irgendjemand hatte die Brennerei übernommen und der ursprünglichen Destille von Blair Athol nur noch ein kleines, aber feines Steinhaus gelassen, in dem ausschließlich Single Malt verkauft wurde. Gebrannt wurden sie alle gemeinsam in den großen und schlichten Hallen vor dem Parkplatz.
Jansen hatte Glück. Die Führung durch die Brennerei des ursprünglichen Blair Athol, der nach dem Schloss in der Nähe benannt war, ging gerade los.
Der Führer sprach ein merkwürdiges Englisch, das ihn von der Aussprache her ans Deutsche erinnerte. Ein ausgewanderter Landsmann? Nein, er war Schotte, antwortete er auf Jansens Frage.
Diese Führung hätte ich auch in Jever haben können, dachte sich der gebürtige Friese. Whisky wurde nicht anders gebraut als Bier, bis auf den Umstand, dass das Malz über einem Torffeuer zubereitet wurde und dessen Geschmack annahm.
Das Produkt sah nicht anders aus als ein dunkles Bier, bevor es in alten Kupferkesseln destilliert und zum Reifen in gebrauchte Sherry-Fässer abgefüllt wurde.
Jansen fiel unter seinen Mitbesuchern eine Frau auf, die ihm bekannt vorkam. Sie stellte viele Fachfragen in gutem Englisch, nicht Schottisch, und so, wie sie fragte, wollte sie anscheinend selbst in die Herstellung von Whisky einsteigen.
Jansen trat hinter sie, um besser verstehen zu können, und berührte sie zufällig an der Schulter. Sie fuhr herum, erschrocken, und auch Jansen fuhr der Schreck durch die Glieder, als er ihr ins Gesicht sah. Es war der Schock, jemanden unerwartet zu treffen, ohne sagen zu können, wie diejenige hieß und wer sie war. Kein Name fiel ihm ein.
Die flüchtige Begegnung ließ ihn nicht mehr los; sie hatte eine tiefsitzende Erinnerung losgetreten, die gleich eine Flut von Signalen an andere Synapsen sendete und ihn in Alarm versetzte. Wer war diese Frau? Woher kannte er sie?
Sie hatte eine graublaue Kurzhaarfrisur, die sie wie eine Katze aussehen ließ, auch die beiden halbrunden Schnitte vor der Stirn mit einem spitz zulaufenden Dreieck in der Mitte erinnerten ihn an Catwoman. War das die Schauspielerin? Nein. Die war dunkelhäutig gewesen. Halle Berry.
Wie alle trug sie ein Namensschild, das sie als Vanessa Hemsford auswies, was ihm nichts sagte. Doch dann hatten die Impulse durch seine angeregten Gehirnareale Jansens Hörzentrum erreicht; die Stimme! Er kannte sie. Daran erinnerte man sich stärker und länger als an das Aussehen einer Person, und sie ließ sich kaum verändern. Frisuren, Haar- und Augenfarben, Teint, das alles konnte man wechseln wie ein Hemd, die Stimme nicht.
Und dieses Organ gehörte zu einer Frau, die er irgendwann, irgendwo einmal verhaftet hatte. Er kannte sie, gut sogar, sie versetzte ihn in helle Panik, doch der Name wollte nicht aus dem Gedächtnis aufsteigen. Wer war diese Person, die so anders aussah, als ihre Stimme erwarten ließ?
Die Frau hatte braune Augen. Hätten sie nicht blau sein sollen? Die Haare lang und rotblond?
Mit der Stimme war auch etwas anders. Sie war rauchiger, sie war das Äquivalent eines Single Malt, während die Erinnerung eher wie ein Bourbon klang.
War sie es doch nicht? Erlebte