Und nun folge ich dem Wege, der mich von dem Hochrücken des Seltzerberges zwischen wogenden Saatfeldern gegen die Frankfurter Heerstrasse zu führt, welche gerade nach der Stadt hineinweiset. Da steht an der Strasse die neue katholische Kirche, ein einfaches, schmuckloses Gebäude, welches man gut und gern eine Kapelle nennen könnte. Ihr gegenüber seh‘ ich auf der anderen Seite der Strasse die geräumigen Gebäulichkeiten der Universität, die Bibliothek und das schöne Wohnhaus des Bibliothekars. In einem Seitenanbau befindet sich das chemische Laboratorium. Es ist gewiss eines der merkwürdigsten auf dem Kontinent. Wer kommt wohl nach Giessen, und versäumt, es zu besuchen? Wer? Nur Der, den von der Menschheit nichts interessirt als sein kleines „grosses Ich“. O man muss es sehn, dies Laboratorium, auch wenn man kein Chemiker ist. Der Gelehrte gehe hinein, wie der Studirende und der Gewerbetreibende. Dies Laboratorium hat einen Ruf, welcher der ganzen Hochschule zu Gunsten kommt, — den Ruf des Mannes, dem es seine vollständige Einrichtung verdankt. Und tritt man nun hinein, wie ist da nichts mittelalterlich - Düstres, nichts, was uns an Fausts geheimnissvolle Studirstube erinnern könnte, „wo selbst das liebe Himmelslicht trüb durch gemalte Scheiben bricht.“ Und doch waltet auch hier ein Zauberer, der die Schmerzens- und Zornworte des alten Magus: „Geheimnissvoll am lichten Tag lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben", diesen hingeworfenen geistigen Fehdehandschuh kühn aufgenommen hat. Was viele Worte: hier waltet Justus Liebig, dieser scharfe, unermüdliche, schöpferische Geist, dessen Verdienste um die ganze wissenschaftliche Gestaltung der organischen Chemie Frankreich und England anerkannt haben, und dessen, anregende Kraft Wissbegierige aus Calcutta und Mexiko um sich her versammelt. Licht, wie des Meisters Geist, ist sein Laboratorium; ich möchte sagen: es drückt gewissermaßen den Charakter aus, welchen seine Wissenschaft in der neuesten Zeit — und zwar grösstenteils durch seine Beihülfe — endlich entfaltet hat. Ja, hier umtönet es mich leise, wie Geisterstimmen:
„Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und strebt;
Wie Himmelskräfte auf- und niedersteigen
Und sich die goldnen Eimer reichen,
Mit segenduftenden Schwingen
Vom Himmel durch die Erde dringen,
Harmonisch all' das All durchklingen!“
Ich fühle hier tief die Wonne des Forschers nach vollbrachter Forschung, wenn ich Ihm auch nicht folgen kann, — dies erhebende Gefühl: das Todte zu beleben durch die Kraft des freien Geistes, — eine ächte Herrscherwonne, wie sie so leicht kein Herrscher fühlt, lässt sich dem Forscher nachfühlen, der keine Autorität anerkennt, als die des ewigen Gesetzes und auch diese nur, weil er sie geprüft hat und probehaltig fand. Doch ich muss mich von dieser Stätte trennen, die ich nicht beschreiben, sondern deren Eindruck ich hur andeuten wollte.
Geschmackvolle und freundliche neue Gebäude zieren den Seltzerweg, welchen ich jetzt, in die Strasse links einbiegend, zur Seite lasse, um durch Gärten und Wiesen an's Ufer der Lahn zu eilen. Welch ein reich gesegneter Fruchtboden, wohin ich rings blicke! Von welcher üppigen Fülle strotzt die Vegetation! Es ist eine wahre Freude, diese Gärten zu betrachten, wo jeder Obstbaum ein kleiner offner Tempel scheint, dessen schlanke hölzerne Säulen die Stützen sind, auf denen die Zweige wie eine Kuppel ruhen, und wo Laub und Obst mannigfaltig -zierliche Kapitäle und reiche Festons bilden. Schade, dass die Blumen, diese sprachlosen und doch so sinnigen Jungfrauen, sich nicht auch in ihren Festkleidern zeigen, womit sie die mütterliche Erde hier so gerne ausstatten möchte, wenn auch der Mensch darauf Gewicht legte, wie zum Beispiel in dem nahen Wetzlar, wo Göthe‘s Jugendgeist über den Blumen schwebt. Hier in den Gärten Giessens nehmen sich die Blumen einfach wie hübsche Landmädchen oder brave zierliche Bürgerstöchter zwischen den sorglich gepflegten Gemüsen aus; der praktische Hausmannssinn opfert das Schöne gern dem Nützlichen oder begnügt sich wenigstens, das Erstere von der Natur zu empfangen, während er das Letztere zu veredeln strebt. Dies gilt natürlich nur im Allgemeinen; denn in einzelnen Gärten reicher Besitzer empfängt uns Flora wie die elegante Dame vom Hause im reichsten Schmuck.
Und nun bin ich plötzlich bis vor das Neustadter oder Lahn -Thor gekommen. Dicht vor mir rauschet die Lahn, welche hier eine Fuhrt gestattet, Weiter oberhalb derselben wölbt sich die alte und hohe steinerne Bracke. Ein Denkmal alter Zeit! Ich gönnte dieser Brücke gern ihr Dasein, wenn sie nur bequemer wäre, so dass man sie zu Wagen passiren könnte, — nämlich ohne Gefahr, dabei den Hals zu brechen.
Vielleicht macht dieser fromme Wunsch Eindruck auf sie, und sie wird einmal über Nacht etwas humaner. So lang sie es aber nicht ist, gesteh' ich gern, dass ich sie lieber gar nicht sähe, sondern eine bequeme und solide neue statt ihrer. Es ist gewiss gar schön, das Altertümliche zu ehren, aber es ist noch schöner, den Anforderungen der Gegenwart bereitwillig zu entsprechen; denn der Lebende hat doch wohl die nächsten Rechte! Der Fremde, der zum erstenmal hierher kommt, kann sich eines ironischen Lächelns wohl kaum erwehren, wenn er sieht, dass jedermann es vorzieht, mit der elegantesten Equipage — durch die Lahn zu fahren, statt über die Brücke, welche kaum hundert Schritte oberhalb der Fuhrt steht; und so ist die Lahn, statt von Schiffen, von Fuhrwerk aller Art belebt. Ueberhaupt erweckt der Anblick der Lahn allerlei andre Gedanken. Da fliesst sie an der gewerbfleissigen, wackren Stadt so traurig hin, als schäme sie sich, dass man sie bisher noch nicht gewürdigt hat, ihr befrachtete Schiffe anzuvertrauen, welche sie in den Rhein hinabtrüge. Und es ist doch etwas Eigenes um den Verkehr! Ein neuer Verbindungsweg, der ihm geöffnet wird, belebt gar schnell elf andere, und alle zwölf sind dann eben so viele Gäste, welche, sich bei der Industrie zu Tisch einfinden und sie freundschaftlich nöthigen, mehr aufzutragen, als bisher- für den Hausbedarf grade ausreichte. Was gilt' die Wette: Jener fatale „dreizehnte“ Tischgenosse, der vielleicht bis dahin der Einzige war, nämlich Meister Stillstand, der so gern breit im Lehnstuhl sitzt, der so gesund aussieht und doch die Abzehrung in sich trägt, stirbt dann, wie irgend ein ominöser „Dreizehnter“, bevor ein Jahr vergeht. Hiermit will ich übrigens keineswegs