SeelenFee - Buch Zwei. Axel Adamitzki. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Axel Adamitzki
Издательство: Bookwire
Серия: SeelenFee
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753188942
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fragte Ingmar mehr aus Höflichkeit, trat aber dennoch einen Schritt vor das Haus und sah sich um.

      »Silvana … Sie wartet dort im Auto.«

      »Silv ist auch hier?«, rief Sibylle, die im nächsten Moment wieder neben ihnen stand. »Wo ist sie?«

      »Dort, in meinem Auto.«

      »Aber da ist es doch kalt.«

      »Ja, schon. Aber sie wollte nicht … Wie hätte das auch ausgesehen, wenn wir zu dritt …«, sagte Raymond, wobei er sich im nächsten Moment über die allzu tumbe Erklärung ärgerte.

      »Ich verstehe«, sagte Sibylle, und das erste Mal, es muss das allererste Mal gewesen sein, lächelte sie Raymond an – nie zuvor hatte ihr Lächeln ihm gegolten.

      »Bitte, hol sie herein«, sagte Sibylle und blickte zu Raymonds Auto. »Was für ein Tag …«, schob sie flüsternd nach. »Was für ein ungewöhnlicher Abend«, sagte sie zu Rosa, die sie aus großen und merkwürdig versöhnlichen Augen anblickte.

      Wie recht sie hat, dachte Raymond, wie recht sie hat.

      Er ging ein paar Schritte, und als er Silvana endlich auf dem Beifahrersitz erkannte, winkte er ihr zu.

      Geschwind war sie aus seinem Wagen gesprungen und stürmisch kam sie angerannt. Fünf Schritte vor Sibylle stoppte sie, und dann geschah es. Der nächste surreale Hauch dieses schicksalhaften Moments.

      »Hallo, Herr Scholz«, sagte sie, wobei sie nur Melissas Mutter ansah.

      »Hallo, Silvana«, sagte der, doch das hörte sie kaum.

      »Hallo … Mama Sibylle.«

      Ohne hinzusehen, reichte Sibylle ihrem Schwiegersohn das Baby und breitete die Arme für die beste Freundin ihrer Tochter aus. »Komm her, meine kleine Silv. Es ist so, so, so wohltuend, dich zu sehen.«

      Und weinend lagen sich die beiden Frauen dann einen langen Moment in den Armen.

      »Warum hast du dich nicht gemeldet?«

      »Ich wusste ja nicht …«

      »Du Dummchen … zwischen uns hat sich doch nichts geändert.«

      »Aber …«

      »Kein Aber … Du weißt genau, du warst mir immer eine zweite Tochter. Oder weißt du das nicht mehr?«

      »Doch schon, aber …«

      »Noch einmal: Kein Aber … Und daran wird sich nichts ändern.«

      »Ich danke dir, Mama Sibylle.«

      Mama Sibylle. Diese zwei Worte, vor über zwanzig Jahren geboren: »Natürlich hat jeder Mensch seine eigene Mama. Und das ist auch gut so. Doch bei dir ist das etwas anderes, Silv. Du bist mir beinahe so lieb wie meine eigene Tochter. Deshalb würde ich mich freuen, wenn du nicht Frau Scholz, sondern Mama Sibylle zu mir sagst. Aber nur, wenn du möchtest.« Und sie hatte gemocht. Vom ersten Moment an – und so kitschig diese beiden Worte für einen Außenstehenden wie Raymond und auch Ingmar klangen, waren sie in diesem Moment dennoch Balsam für Sibylles Seele, für die Seele einer Mutter.

      Anfänglich etwas unbehaglich – jedes Wort, jede Bemerkung schien unpassend – saßen sie dann beisammen. Silvana musste sich dicht neben Sibylle auf die Couch setzen, Raymonds Schwiegermutter hatte darauf bestanden. Ingmar und Raymond hatten jeweils einen Sessel gewählt.

      Ingmars Angebot, eine Flasche Wein zu öffnen, hatten alle abgelehnt. Stumm blickten sie jetzt nur zu Rosa, die damit beschäftigt war, umständlich und ungestüm, das Gesicht ihrer Großmutter zu erkunden. Niemand wusste, wie er ein Wort an die anderen richten sollte, niemand wollte diese neue, ungemein zerbrechliche Ergriffenheit zerstören.

      Allein, dass man hier zusammensaß … vor Stunden für alle noch nicht fassbar.

      Bei dem Gedanken an die Ereignisse dieses Tages, spürte Raymond das erste Mal, dass seine Energie beinahe aufgebraucht war. Erst der Traum, der ihm endlich seinen Weg gezeigt hatte, dann die Rückkehr zum Gut und bald danach schon der erste Blick auf seine Tochter, die ihn mit einem einzigen Lächeln auf immer und ewig in ihren Bann gezogen hatte. Jeder dieser Momente war bereits ein vollkommener Moment des Glücks gewesen. Eine Erlösung.

      Und jetzt das hier … Er konnte kaum glauben, dass er tatsächlich bei Melissas Eltern im Wohnzimmer saß.

      Wann war er das letzte Mal hier gewesen?

      Er wusste es noch genau: Beinahe acht Wochen vor der Hochzeit. Als er um Melissas Hand angehalten hatte. Sie hatte darauf bestanden.

      »Ist das in euren Kreisen nicht mehr üblich?«, hatte sie spöttisch gesagt.

      Natürlich war das noch üblich, leider. »Aber ich hatte ja bis heute nicht gewusst, dass du so melodramatisch sein kannst.«

      »Glaube mir, ich kann noch viel melodramatischer sein«, hatte sie geantwortet, ihn dann wollüstig geküsst und anschließend mit ihm von einem »rosaroten« Leben geträumt.

      Worte, Küsse und Träume, die er nie vergessen würde.

      Das waren seine Erinnerungen. Dennoch … Jeder von ihnen hatte seine eigenen an Melissa, die aber hier und heute unausgesprochen bleiben würden, im Augenblick auch ein wenig zwischen ihnen standen … sie verstummen ließen. Die sie aber wohl auch zusammenhielten.

      Raymond beobachtete mit einem Lächeln seine Tochter, die ausgelassen juchzte. Rosa war noch keine drei Wochen alt und zeigte ein Verhalten, das Babys vielleicht mit fünf oder sechs Monaten äußerten. Normalerweise müsste die Kleine schlafen, viel schlafen – doch das wusste Raymond nicht. Woher auch?

      Dann fiel sein Blick auf Silvana. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie, Melissas beste Freundin, einen unsagbar großen Anteil an jedem seiner heutigen Glücksmomente hatte. Kommt der Albtraum immer wieder, dann träume ihn bis zum Ende … Oder auf dem Landgut: Sie ist ein Segen für Rosa … Schließlich bei der ersten Begegnung mit seiner kleinen Tochter: Ich bin mir jetzt sicher, sie bekommt … nein, sie hat einen wundervollen Vater.

      Worte, die er erst allmählich begriff. Auch wäre er ohne sie sicher nicht hier.

      Silvana! Was für eine Frau.

      Lange und nachdenklich sah er sie nun an. Ihr Gesicht war voller Freude. Ihr Mund, ihre Augen, schienen im Moment nur unberührte, ungetrübte Gedanken zu kennen. Sie hatte am wenigsten mit all dem hier zu tun, und doch war sie es, die den Unterschied ausmachte. Alle lehnten sich mit ihren Gedanken und Hoffnungen an sie an. Und sie gab und gab und gab.

      Der Saum ihres dunklen Jerseykleides war ihr über die Knie gerutscht und ließ die nicht gar so schlanken Oberschenkel erahnen, auch schmiegte sich der weiche Stoff an der einen oder anderen Stelle dicht an ihren Körper, der kaum irgendwelchen Idealmaßen entsprach. Aber er entsprach ihr. Vollendet.

      Sie spürte seinen Blick, und sie packte und erwiderte ihn gleichermaßen … einen kurzen Atemzug lang. Doch rasch verloren ihre Augen wieder diesen Hauch von Intimität, trugen sie wieder dieses Bestimmende und Fordernde in sich. Wir sind hier, weil du etwas klären wolltest. Der Moment ist jetzt günstig. Sie musste es nicht sagen, er verstand sie einfach.

      Und er lächelte. Offensichtlich hatte sie ein untrügliches Gefühl für den richtigen Moment.

      »Am Sonntag …«, durchbrach er sanft die Stille, räusperte sich noch einmal und gab seiner Stimme damit die Klarheit, die seine Worte unterstreichen sollten. »Am Sonntag soll die Taufe sein.«

      Er brach kurz ab, denn plötzlich ängstlich geworden, blickte Sibylle ihren Mann an und nahm dabei die Hand des Babys hinunter, die sie im Moment wohl nicht mehr im Gesicht spüren wollte. Ingmar begriff die Gedanken seiner Frau scheinbar sofort.

      »Bevor du weiterredest … Sicherlich kommen wir gern in die Kirche. Aber mehr –«

      »Ihr seid die Großeltern. Und wie ihr seht, liebt Rosa euch«, unterbrach Raymond ihn.

      Sibylle