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Der Zustand des Reiches im 15. Jahrhundert
Der Zustand des Reiches im 15. Jahrhundert
König Nobel beruft einen Reichstag, zu dem sich seine Vasallen, große und kleine, geistliche und weltliche, gehorsam einfinden.
„Reineke Fuchs“
Da ist Braun der Bär, treuherzig brummend, obwohl er sich als der wahre König fühlt, Isegrim der Wolf, der unersättliche, Bellin der Schafbock, der des Königs Kanzlei, das Urkunden- und Schriftenwesen unter sich hat, Lampe der Hase, Hinze der Kater, Henning der Hahn und viele andere, und alle scharen sich in Ergebenheit um Nobel, der pompös auf dem Thron sitzt und eine von den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Fürsorge aufgeblähte Ansprache hält. Nicht erschienen ist Reineke Fuchs, weil er, vieler Missetaten und Gesetzesübertretungen sich bewusst, voraussieht, es werde ein übles Ende mit ihm nehmen. Alle Tiere, einige Fuchsverwandte, Dachs, Affe ausgenommen, hassen, fürchten ihn, der viel klüger und listiger ist als sie, und seine Listigkeit benutzt, um die kleinen zu fangen und die großen, plumpen Herrschaften in die ärgsten Ungelegenheiten zu verstricken. Es gelingt endlich, ihn zu Hof zu bringen, und schon ist ihm die Schlinge um den Hals gelegt, da kommt er noch einmal zu Worte und erweckt des Königs Gelüsten nach einem Schatz, den er irgendwo versteckt zu haben vorgibt. Argwöhnisch verlangt Nobel, dass Reineke selbst ihn zur Stelle geleite; aber Reineke wendet vor, dass er im Bann sei und dass es sich für die Majestät des Königs nicht zieme, sich mit einem Gebannten öffentlich zu zeigen; er wolle zuerst nach Rom gehen und sich vom Bann lösen. Das leuchtet Nobel ein; denn mit den römisch-päpstlichen Angelegenheiten ist nicht zu spaßen.
Nobel trägt seine Löwenperücke mit so viel Würde, und die gefährlichen Vasallen agieren ihre Dienstbeflissenheit und schwärmerische Verehrung für das Oberhaupt so glatt, dass wir ein Bild der Eintracht und wohlerworbener Rechte vor uns sehen. Im Grunde sind sie allesamt räuberische Bestien, je stärker, desto skrupelloser, während die Schwachen, Kleinen, die es gern den Mächtigen gleichtäten, durchzuschlüpfen suchen, wie es eben geht. Nobel treibt es in seinem Bezirk so wie sie; wenn er als König inmitten seiner Großen auftritt, deren er nicht Meister werden kann, hat er etwas Hohles, etwas von einer grimmigen Larve an sich, hinter der ein ratloser Schwachkopf steckt, und seine Neigung gilt eigentlich dem Schelm Reineke, dessen erfinderische Schliche ihm zugutekommen könnten, wenn es den großen Hansen einfallen sollte, die Zähne gegen ihn zu fletschen.
Eine bewundernswerte Dichtung ist das auf uralter Tiersage aufgebaute Epos von Reineke Fuchs, das um das Ende des 15. Jahrhunderts in niederdeutscher Sprache aufgezeichnet wurde. Kaum ist eine beißendere Satire denkbar, die die höchsten Gewalten im Reich im Bilde gefräßigen Viehs erscheinen lässt, zugleich aber so kindlich gutartig, so naturgemäß, so spielerisch treffend und vor allen Dingen so lustig, dass eine satirische Absicht kaum empfunden wird. Können doch Kinder das Gedicht wie ein Märchen lesen. Nur an einer einzigen Stelle trägt es den Zorn des Verfassers über den Künstler davon, als er Reineke sich über die verrotteten Verhältnisse am päpstlichen Hofe aussprechen lässt, und dem Affen Märten, der mehrere Jahre hindurch Schreiber bei einem Bischof war und in Rom gut bekannt ist, Beziehungen zum Doktor Greif, zu den Herren Losefund, Wendemantel, Schalksund hat, eine Schilderung des schändlichen Treibens an der Kurie in den Mund legt.
Man schwätzt dort wohl vom Recht sehr viel;
ja Quark! Geld ist das was man will!
Ist eine Sache noch so krumm,
mit Geld dreht man sie bald herum.
Wer blechen kann, für den wird Rat.
Weh dem, der nichts im Säckel hat.
Bei allem Spott und Zorn, die das Gedicht erfüllten, ist doch etwas ererbte Anhänglichkeit an Papst und Kaiser geblieben: der Papst ist ein armer alter Mann, der nichts von den Gräueln weiß, die um ihn her im Schwunge sind, der Kaiser ist fromm und gut, wenn auch zu schwach, um das Böse zu hindern.
Die beiden von Gott eingesetzten Mittelpunkte der Ellipse ließ man gelten, außer ihnen fast nichts mehr von dem, was einst unerschütterlich gültig gewesen war.
Ursprünglich aus den fünf Stammesherzogtümern Franken, Sachsen, Schwaben, Bayern, Lothringen bestehend, teilte sich das Deutsche Reich gemäß dem deutschen Hang nach individueller Besonderheit und Unabhängigkeit allmählich in einzelne selbstständige Herrschaften, deren es mehr als dreihundert gab. Aus der Reihe der Fürsten sonderten sich zuerst durch Gewohnheit, dann durch Gesetz als bevorzugt und einflussreich die sieben Kurfürsten, auf die sich das Recht der Kaiserwahl beschränkt hatte und denen gleich zu werden die Standesgenossen eifersüchtig strebten. Der niedere Adel der Grafen und Herren konnte hoffen, gefürstet zu werden; hatten doch mehrmals Grafen den kaiserlichen Thron bestiegen. Hoher und niederer Adel teilten sich in den Besitz der zahlreichen geistlichen Bistümer, Abteien und Propsteien, die sich reich und ansehnlich zwischen den weltlichen ausbreiteten. Überall verstreut hausten in ihren Burgen die Ritter, als Kinder schon mit dem Pferd verwachsen, mit der Waffe vertraut, verpflichtet, dem Kaiser auf seinen Kriegszügen zu folgen. Als ein im Rang niedrigeres, aber durch Tüchtigkeit und Reichtum ausgezeichnetes Element erblühten daneben die Reichs- und Freistädte, Sitze einer ebenso gebildeten wie gewerbstätigen und kriegerischen Bürgerschaft, mit denen manche Landstadt, obwohl dem Namen nach irgendeinem Fürsten untertan, an Selbständigkeit wetteiferte. Die Freiheit der Landgemeinden ging unglücklicherweise bald unter, nur wenige im Gebirge und am Meer erhielten sie oder erwarben sie in schweren Kämpfen wieder; immerhin beruhte die Dienstbarkeit der Bauern auf Verträgen, welche die gegenseitigen Rechte und Pflichten von Herrschaft und Untertan regelten, so dass eigentliche Leibeigenschaft nicht vorkam. Die Spitze des reichgegliederten Körpers bildeten zwei Häupter, Papst und Kaiser, die die Staatslehre mit Sonne und Mond zu vergleichen pflegte. Beide waren auf der Höhe des Mittelalters grundsätzlich absolut, nur von Gott abhängig, tatsächlich aber mannigfach beschränkt, sowohl durch die Beziehung zu ihren Wählern wie durch ihre Beziehung zueinander, die wie alles in diesem lebendig strömenden Gebilde nur durch Gewohnheit oder durch auf den jeweiligen Fall berechnete Bestimmungen geregelt wurde. Beide strebten nach Unabhängigkeit voneinander und nach Herrschaft übereinander, woraus sich ein dauernder, nur gelegentlich durch Friedensschlüsse unterbrochener Kampf ergab, unendlich, weil diese beiden Mächte durch ihre Stellung im Reich unauflöslich miteinander verbunden und einander unentbehrlich waren. Wenn der Papst die Fülle der geistlichen Macht besaß, so nannte sich der Kaiser Herr des Erdkreises, dominus mundi, insbesondere war er Herr des Reiches, Inhaber des gesamten Bodens und aller Rechte, was alles er besaß, um davon auszuteilen; es strömte von ihm aus, um wie zum Herzen des Körpers zu ihm zurückzufließen. Diejenigen, welche am meisten Empfänger seiner Gnaden waren, trachteten, je reicher sie wurden desto mehr danach, unabhängig und selbständig zu werden, und wurden dadurch zu einer dem Kaiser entgegenwirkenden Macht. Indem sie sich auf den stets zur Intrige bereiten Papst stützten und sich mit sehr wirksamen geistigen Waffen ausrüsteten, waren sie ihm oft überlegen, und der Herr des Reiches musste sich dies Reich mit der Waffe erobern.
Wie auf dem Papst die Einheit des Glaubens, so beruhte auf dem Kaiser die Einheit der inneren und äußeren Politik. Das Zusammenwirken der Reichsglieder wurde bewirkt durch die Gefolgschaft, die bei Reichskriegen dem Kaiser zu leisten war, und durch den Reichstag, auf dem allerdings nicht alle Stände vertreten waren: die Bauern und Ritter fehlten ganz, die Städte wurden nur dann zugezogen, wenn die Fürsten ihrer bedurften; erst gegen das Ende des Mittelalters erreichten sie die eigentliche Reichsstandschaft, und auch dann nicht unbestritten.