Sie konnte es tatsächlich nicht verstehen. Sie hatte keine eindeutige Vorstellung von der Transaktion, durch die das Eigentum an East Lynne auf Mr. Carlyle übergegangen war. Viele unbestimmte Gedanken suchten sie heim. In ihrem Kopf schwelten Ängste, sie könne ihm etwas schulden, Ängste, das Haus mit allem, was darin war, könne ihm – vielleicht nur zum Teil – zur Liquidation übergeben werden.
„Schuldet mein Vater Ihnen irgendwelches Geld?“, hauchte sie in ängstlichem Ton.
„Nicht das geringste“, antwortete er. „Lord Mount Severn war bei mir während seines ganzen Lebens nie verschuldet.“
„Und doch haben Sie East Lynne gekauft?“
„Das hätte auch jeder andere tun können“, antwortete er, wobei er ihren Gedankengang durchschaute. „Ich habe nach einem geeigneten Anwesen gesucht, um mein Geld zu investieren, und East Lynne schien mir passend.“
„Ich merke, in welcher Lage ich bin, Mr. Carlyle“, fuhr sie fort, wobei die aufmüpfigen Tränen ihr wieder in die Augen schossen, „und dass ich mich mit der Bitte um Obdach aufdränge. Aber ich weiß mir nicht zu helfen.“
„Sie können helfen, mir Kummer zu bereiten“, antwortete er sanft, „denn das tun Sie, wenn Sie von Verpflichtungen reden. Die Verpflichtung liegt auf meiner Seite, Lady Isabel. Und wenn ich meiner Hoffnung Ausdruck verleihe, dass Sie in East Lynne bleiben, wenn es Ihnen von Nutzen ist, und so lang dieser Zeitraum auch sein mag, dann sage ich das mit vollster Aufrichtigkeit, das versichere ich Ihnen.“
„Sie sind sehr freundlich“, sagte sie stockend. „Nur für ein paar Tage – bis ich wieder denken kann. Ach, Mr. Carlyle, steht es um Papas Angelegenheiten wirklich so schlimm, wie sie gestern gesagt haben?“ Sie brach ab, denn die Verwirrung kehrte mit ganzer Kraft wieder zurück. „Ist nichts übrig?“
Nun hätte Mr. Carlyle ausweichen und ihr versichern können, es sei noch viel übrig, um sie zu beruhigen. Aber gegen den Gedanken, sie zu täuschen, sträubte sich jede Faser seines Wesens. Er erkannte, wie sie unausgesprochen auf seine Aufrichtigkeit baute.
„Ich fürchte, die Sache sieht nicht gerade glänzend aus“, antwortete er. „Das heißt, soweit wir es bisher erkennen können. Aber vielleicht wurden für Sie irgendwelche Regelungen getroffen, von denen wir noch nichts wissen. Warburton & Ware…“
„Nein“, unterbrach sie ihn. „Ich habe nie von Regelungen gehört, und ich bin sicher, dass es keine gibt. Ich sehe das Schlimmste eindeutig vor mir. Ich habe kein Zuhause – kein Zuhause und kein Geld. Dieses Haus gehört Ihnen; das Stadthaus und Mount Severn gehen an Mr. Vane. Und ich habe nichts.“
„Aber Mr. Vane wird doch sicher entzückt sein, Sie in Ihrer alten Heimat willkommen zu heißen. Die Häuser gehen an ihn – aber es scheint fast, als hätten Sie ein größeres Anrecht darauf als er oder Mrs. Vane.“
„Mein Zuhause bei denen!“, gab sie zurück, als hätten die Worte ihr einen Stich versetzt. „Was sagen Sie da, Mr. Carlyle?“
„Ich bitte um Verzeihung, Lady Isabel. Ich hätte es mir nicht angemaßt, selbst das Thema anzusprechen, aber…“
„Nein, ich glaube, ich muss mich entschuldigen“, unterbrach sie ihn in ruhigerem Ton. „Ich bin dankbar, dass Sie daran Interesse haben – dass Sie mir eine solche Freundlichkeit erweisen. Aber ich kann nicht zusammen mit Mrs. Vane wohnen.“
Mr. Carlyle erhob sich. Es würde nichts nützen, wenn er noch länger blieb, und er hielt es nicht für angemessen, sich weiterhin aufzudrängen. Er äußerte die Vermutung, es könne angenehmer sein, wenn Isabel eine Freundin bei sich hätte. Mrs. Ducie sei zweifellos bereit zu kommen, und sie sei eine freundliche, mütterliche Frau.
Isabel schüttelte in vorübergehendem Schaudern den Kopf. „Fremde, hier….mit dem allen…in Papas Zimmer!“, murmelte sie. „Mrs. Ducie ist gestern herübergekommen und wollte vielleicht bleiben – ich weiß es nicht. Ich hatte Angst vor Fragen und habe nicht mit ihr gesprochen. Wenn ich denke…daran denke…bin ich dankbar, dass ich allein bin.“
Als Mr. Carlyle hinausging, hielt die Haushälterin ihn auf.
„Sir, wie lauten die Nachrichten von Castle Marling? Pound sagt, ein Brief sei eingetroffen. Kommt Mr. Vane?“
„Er war mit der Yacht unterwegs. Mrs. Vane hat ihn gestern zurückerwartet, also kann man hoffen, dass er heute hier sein wird.“
„Was ist zu tun, wenn er nicht kommt?“, keuchte sie. „Der Bleisarg sollte zugelötet werden, denn Sie wissen ja, Sir, in welchem Zustand er war, als er starb.“
„Er kann auch ohne Mr. Vane zugelötet werden.“
„Natürlich – ohne Mr. Vane. Darum geht es nicht, Sir. Werden diese Männer es zulassen? Die Leichenbestatter waren heute Morgen bei Tagesanbruch hier, aber diese Männer haben angedeutet, sie würden den Toten nicht aus den Augen lassen. Die Worte hörten sich für uns schwerwiegend an, aber wir haben keine Fragen gestellt. Haben sie ein Recht, es zu verhindern, Sir?“
„Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht“, erwiderte Mr. Carlyle. „Die Maßnahme kommt so selten vor, dass ich kaum etwas darüber weiß, welches Recht sie haben oder nicht haben. Erwähnen Sie das nicht gegenüber Lady Isabel. Und wenn Mr. Va…wenn Lord Mount Severn eintrifft, schicken Sie jemanden und setzen Sie mich davon in Kenntnis.“
Kapitel 11 Der neue Lord und die Banknote
Am Sonntagnachmittag war zu sehen, wie eine Kutsche den Zufahrtsweg heraufdonnerte. In ihr saß Lord Mount Severn, der neue Earl. Die direkte Bahnlinie von Castle Marling hatte ihn nur bis auf fünf Meilen an West Lynne herangebracht, und von dort war er in einer Mietdroschke gereist. Wenig später gesellte sich Mr. Carlyle zu ihm, und fast zur gleichen Zeit traf auch Mr. Warburton aus London ein. Er war nicht in der Stadt gewesen, als der Earl starb, und hatte sich deshalb nicht früher darum kümmern können. Man kam sofort auf das Geschäftliche zu sprechen.
Der jetzige Earl wusste, dass sein Vorgänger in Schwierigkeiten gewesen war, aber vom Ausmaß des Übels hatte er keinerlei Vorstellung; die beiden hatten keine enge Beziehung gepflegt und waren nur selten zusammengetroffen. Als man ihm jetzt die verschiedenen Nachrichten im Einzelnen darlegte – die Geldverschwendung, den katastrophalen Ruin, das völlige Fehlen einer Versorgung für Isabel –, war er versteinert und entgeistert. Er war ein großer, kräftiger Mann von dreiundvierzig Jahren, ehrbarem Wesen, kühlen Manieren und starker Selbstbeherrschung.
„Das ist die ungeheuerlichste geschäftliche Mitteilung, die ich je erhalten habe!“, sagte er aufgeregt zu den beiden Anwälten. „Unter allen rücksichtslosen Dummköpfen muss Mount Severn der Schlimmste gewesen sein.“
„Von unverzeihlicher Sorglosigkeit, was seine Tochter betrifft“, lautete die zustimmende Antwort.
„Sorglosigkeit! Es muss schierer Wahnsinn gewesen sein“, gab der Earl zurück. „Kein Mensch, der bei Sinnen ist, würde ein Kind so der Gnade der Welt ausliefern, wie er es getan hat. Sie hat keinen Schilling – buchstäblich kein Schilling befindet sich in ihrem Besitz. Ich habe ihr die Frage gestellt, wie viel Geld im Haus war, als der Earl starb. Zwanzig oder fünfundzwanzig Pfund, hat sie geantwortet, und die habe sie Mason gegeben, weil sie für die Haushaltsführung gebraucht wurden. Wenn das Mädchen nur einen Yard Kleiderband haben will, besitzt sie keinen Penny, um es zu bezahlen! Kann man sich so etwas wirklich vorstellen? Ich verwette meine Wahrheitsliebe, dass so etwas noch nie vorgekommen ist.“
„Kein Geld für ihre persönlichen Bedürfnisse!“, rief Mr. Carlyle.
„Keinen halben Penny auf der ganzen Welt. Und soweit ich sehen kann, gibt es keine Vermögenswerte, auf die sie zurückgreifen könnte, und es wird auch keine geben.“
„Ganz richtig, Mylord“, nickte Mr. Warburton.