Obwohl der Schlüssel zur Eingangstür zu passen schien, war ich trotzdem ein wenig irritiert, dass mein neues Quartier inmitten dieser medizinischen Einrichtung sein sollte. Ich betrat zögernd den Vorraum, sah mich neugierig um, und blieb auf einmal erstaunt vor einer seltsam anmutenden Tür stehen, die mich noch mehr verunsicherte.
Neben dem Wartezimmer und den ärztlichen Behandlungsräumen konnte die Krankenstation noch einen zusätzlichen Raum vorweisen, auf dessen Tür in schlichten schwarzen Buchstaben Frauenruheraum geschrieben stand. Ich war schon ein wenig verwirrt ob dieser fragwürdigen Konstellation: Sollte hinter dieser Tür wirklich meine neue Herberge auf mich warten?
Vorsichtig schloss ich die Tür auf und erschrak beim Betätigen des Lichtschalters über die grell zuckenden Blitze mehrerer Neonlampen, die den weiß getünchten kleinen Raum mit seiner spartanischen Einrichtung in ein fahles Licht tauchten. Alles was ich in dem Zimmer vorfand, war eine schwarze kunstlederne Liege, ein kleines weißes Metallschränkchen und ein eingestaubter Rohrstuhl, der auch schon einmal bessere Zeiten gesehen hatte.
Solche Ruheräume, die aus einer gewerkschaftlichen Forderung heraus entstanden und ausschließlich den werktätigen Frauen zugedacht waren, räumten gestressten Mitarbeiterinnen im Bedarfsfalle eine kleine Ruhepause ein. Der Begriff „Stress“ war damals allerdings noch ein Unbekannter, und so führten solche Inseln der Ruhe im Allgemeinen auch ein verwaistes Dasein. Und wie ich der Patina auf den Möbeln ablesen konnte, war ich auch der Einzige der dieses Quartier seit längerer Zeit aufsuchte. In dieser totalen Abgeschiedenheit beschlich mich deshalb auch für einen Augenblick das seltsame Gefühl, in einer Klosterzelle gelandet zu sein.
Diesen einengenden Gedanken aber schob ich schnell wieder beiseite, stellte meine Reisetasche auf den leicht eingestaubten Stuhl und begann mit der Vorbereitung meines ungewöhnlichen Nachtlagers. Etwas unbeholfen wuselte ich eine dicke graue Flanelldecke auseinander, entfaltete das ordentlich zusammengelegte weiße Laken, um es auf der Kunstlederfläche der Pritsche ausbreiten zu können. Meiner Reisetasche entnahm ich den von meiner Mutter sorgfältig gebügelten Schlafanzug, und putzte mir anschließend über dem kleinen Waschbecken die Zähne.
Wenig später unternahm ich den mühsamen Versuch auf der knarrenden Liege, unbeholfen mit dem großen Laken kämpfend, in die richtige Schlafstellung zu gelangen. Die schmale Pritsche wollte eine bequeme Seitenlage einfach nicht zulassen, und so gab ich letztlich den sinnlosen Kampf gegen das Betttuch auf, um mich wieder in eine normale Rückenlage fallen zu lassen. Zufrieden war ich auch jetzt noch nicht. So steif auf dem Rücken liegend, die Arme eng an den Körper gelegt, fühlte ich mich eher wie ein auf die OP vorbereiteter Patient, nicht aber wie ein zufriedener Schlafgast in seiner neuen Herberge. Auch wenn es mir äußerst schwer fiel in dieser unbequemen Stellung, und dazu noch in einem Frauenruheraum in den Schlaf zu kommen, war ich gewillt, meiner ersten Nacht optimistisch entgegenzusehen. Irgendwie war es aber trotzdem ein beruhigendes Gefühl festzustellen, wie ganz allmählich ein wohliger Schauer über meinen Körper zog:
Endlich war es soweit, ich hatte es geschafft, befand mich mitten im Herzen der Traumfabrik und sah dem kommenden Morgen meines ersten Arbeitstages schon viel erwartungsvoller entgegen. Nichts konnte mich jetzt mehr davon abbringen, meinen Entschluss rückgängig zu machen, so sicher war ich mir, dem ersehnten Traumziel ein bedeutendes Stück näher gekommen zu sein.
Zufall oder Fügung, das heutige Sommerfest im Park, für mich das erste Erlebnis in meiner neuen Welt, eine Welt die ich fortan erobern wollte, eine unbekannte Welt, eine Welt von der ich überzeugt war, dass sie nach Abenteuer und Freiheit roch. Dieser ungewöhnlich warme Abend, die Luft unter den großen alten Laubbäumen im Babelsberger Park, die sich seidig und frisch zugleich angefühlt hatte, und die mit vielen brennenden Kerzen geschmückte Rasenfläche, auf der sich Jung und Alt vergnügte, all das hatte mich mit Heiterkeit erfüllt.
Hier im Zentrum der großen weiten Welt, weit weg vom heimatlichen Provinzmief, wollte ich mich endlich fallen lassen, konnte eintauchen in diese unbeschwerte, vorwärts strebende Szenerie. Überwältigt von den Impressionen aus Fantasie und Traum, mischte ich mich unter die fröhlichen Leute, ließ mich von ihrer Heiterkeit anstecken, ließ mich einfach treiben, schaukelnd im Strom aus Menschengetümmel, saß zuletzt allein vor mich hinträumend irgendwo am Wegesrand.
Erst weit nach Mitternacht hatte ich das bunte Spiel der Lichter hinter mir gelassen, war zurückgeschlendert, durchschritt das schmiedeeiserne Parktor, steuerte auf das Studio zu und wusste, direkt an diese wundervolle Parkanlage grenzt das riesige Gelände des einzigen Filmbetriebes der DDR, zu dessen Mitarbeiter ich mich ab heute zählen durfte.
Diesen wundervollen ersten Abend im Babelsberger Park hatte ich unendlich ausgedehnt, hatte lange Zeit zwischen all den flackernden Kerzen auf einem Baumstumpf gesessen, und das muntere Treiben der Menschen, eine für mich völlig neue Lebenserfahrung, wie ein Süchtiger in mich aufgesaugt. Später, im Frauenruheraum, beim Einschlafen auf der harten Pritsche, dachte ich noch ein letztes Mal zurück an die Zeit vordem, an die Zeit zwischen Kindheit und Lehre, und erinnerte mich, dass meinem Drang, um jeden Preis in die Traumwelt des Filme Machens eintauchen zu wollen, ein nachhaltiges Schlüsselerlebnis voraus ging:
Zu Beginn meiner Lehrzeit musste ich einmal wöchentlich zur Berufsschule nach Rheinsberg fahren, früh hin und abends zurück. In den fünfziger Jahren eine kleine Weltreise. Ähnlich wie ein Wandersmann stieg ich mit gepacktem Schulranzen und ein wenig Proviant ausgerüstet in die schnaufende Bimmelbahn nach Rheinsberg, um dort für quälende Stunden die Schulbank zu drücken. Nach der Schule, die gewöhnlich gegen vierzehn Uhr beendet war, verblieb mir allerdings noch ein wenig Freizeit, die ich mit Vorliebe im Rheinsberger Schlosspark verbrachte. Unter den alten schattigen Bäumen schmeckte nicht nur das mitgebrachte Pausenbrot besser, auch manch geheimnisvolle Lektüre wurde in dieser lauschigen Umgebung gierig von mir verschlungen.
An einem schönen Tag im Sommer aber, sollte alles ganz anders kommen. Die romantische Stille des Schlossparks wurde plötzlich auf höchst ungewöhnliche Weise von einem Drehstab der DEFA unterbrochen.
Am Ufer des Rheinsberger Sees, in unmittelbarer Nähe des Schlosses, wurden in jenem Sommer Teile des Filmes Mazurka der Liebe unter der Regie von Hans Müller realisiert und als stiller Zaungast konnte ich beobachten, wie es die Filmleute fertig brachten, die Natur belassene Schönheit des Parks für ihre Zwecke künstlich zu verändern. Für diesen Operettenfilm probte man gerade eine im Duett gesungene, längere Liebesarie. Die Szenerie spielte sich in einem Ruderkahn ab, der sanft in der nachmittäglichen Sonne durch das Schilf wogte. Besonders aufmerksam wurde ich allerdings auf die ungewöhnliche Einflussnahme, die das Szenenbild während dieser Proben am vorhandenen Landschaftsbild vornahm:
Um die späte warme Sonnenstimmung in der Szene optisch besonders herauszuarbeiten, hatte der Regisseur angeordnet, das gesamte Schilf im Umkreis von etwa zehn Metern mit Goldbronze einsprühen zulassen.
Von der Umsetzung dieser Idee war ich damals total fasziniert, sah von meinem Beobachterposten aus noch sehr lange dem Verlauf der Dreharbeiten zu, und hatte Mühe den Zug nach Hause nicht zu verpassen, so sehr hatte mich diese ungewöhnliche Art des Filme Machens in seinen Bann gezogen.
Erst am späten Nachmittag trat ich innerlich total aufgewühlt und völlig durcheinander die Heimreise an. Alles in meinem Körper schien zu brennen und verlangte in dem überhitzten Zugabteil nach einer Abkühlung. Ich hielt meinen Kopf aus dem offen Fenster, um ihn ein wenig abzukühlen, vor Allem aber, um wieder klare Gedanken fassen zu können.