Aufenthalt bei Mutter. Hellen Scheefer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hellen Scheefer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753182759
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er doch nichts von ihr? Beth wandte sich ihren Kommilitonen zu. Versuchte, die Sache zu vergessen. Beth tanzte eine Weile, in ihre Gedanken versunken. Nein. Einen Versuch musste sie noch starten. Sie wollte wissen, woran sie ist. War er ihr zugetan oder war er es nicht? Sie ging zum Diskjockey, bat um einen Musikwunsch, hielt für einen Moment lang den Finger an die Tonbandspule, sodass die Musik jaulte, lachte laut auf, warf den Kopf in den Nacken und steuerte geradewegs auf die Gruppe junger Männer zu. Sie ging ganz dicht an ihm vorbei, sodass er sie hätte greifen können. Sie ging, nichts geschah, sie wand sich ab. Da! Im letzten Moment spürte sie, wie jemand sie packte und an sich heran zog. Er war es! Karl. „Jetzt hab ich dich aber gefangen. Beinahe wärst du mir wieder entwischt!“ Er lachte.

      Beth. zwei.

      Karl hatte nur noch ein Jahr Studium vor sich. Er war fünf Jahre älter als sie, aber an Lebenserfahrung hatte er ihr wohl eine ganze Generation voraus. Mit Vierzehn ins Internat zum Abitur, Armeezeit. Vater war Vorsitzender der LPG. Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Beth, nahtlos von der Schule mit Abiturstufe zum Studium, hatte bisher nichts anderes kennen gelernt, als das was sie in der Schule zu lernen hatte und was ihre Eltern über dieses Land erzählten. Sowohl bei den Eltern als auch in der Schule erfuhr sie Ähnliches über ihr Land, und doch waren es Lügen, wie sie bald begreifen musste. Schon in den ersten Wochen des Studiums ahnte Beth, dass sie in einem ‚Glashaus’ gelebt hatte. Keiner ihrer Kommilitonen teilte ihr Verständnis von der Welt. Alle erzählten und Jeder auf seine Weise, warum die Propaganda in den Nachrichten und in der Schule falsch war und mit den tatsächlichen Verhältnissen im Lande nichts gemein hatte. Selbst in ihrer Ausbildung zum Bauingenieur musste sie erfahren, dass die Planwirtschaft im Land nur selten wie geplant funktionierte und im Grunde den Mangel an Material, Bauteilen und Baukapazitäten verursachte. Beth war Kind einer Spezialschule gewesen. Russisch-Ausbildung im Alter von acht Jahren an. Die besten aller Klassen aus der Stadt waren auserwählt worden für diese Klasse. Die Sprache der Freunde und Befreier vom Faschismus erlernen. Siegen lernen. Die Elternschaft dieser Kinder war entsprechend staatstreu. Wer es nicht war, lernte seinen Kindern von Beginn an, in der Schule den Mund zu halten. Auch den Mitschülern gegenüber. Exil im Alltag.

      Beths Eltern arbeiteten beide im Dienst des Staates. Vater unterrichtete das Fach Staatsbürgerkunde, doch für die ideologische Ordnung in der Familie sorgte Mutter. Mutter arbeitete in der Buchhaltung der Schulverwaltung. Zu Hause erlaubte sie kein Wort der Kritik, keine abweichende Meinung. Es gab keine Probleme. Nicht in der Familie, nicht in der Gesellschaft. Und wer Anderes behauptete, der war verhetzt vom Feind, den kapitalistisch verseuchten Individuen. Und dann war da noch Beth. Zu Hause fiel sie immer wieder aus dem Rahmen. Manchmal rastete sie aus. Fiel in einen Wutausbruch, schlug um sich, verurteilte eine Person mit wenigen, messerscharfen Worten. Meist traf es Vater oder Mutter. Manchmal ihre Freundin, von der sie nie wirklich wusste, ob sie sie eigentlich mochte oder hasste. Beth verstand selbst nicht, woher diese Wut aus ihr kam. Die überfiel sie einfach. Beth passte halt nicht in diese Welt.

      Karl war der erste Mensch in Beths Leben, der dem Staat und der Gesellschaft, in der sie lebten, feindlich gesinnt war. Mit Karl fand Beth Zugang in eine ganz andere Welt. Sie erkannte, dass es in ihrem Land Menschen gab, die andere Ziele hatten, oder einfach nur Kritik an den herrschenden Zuständen geübt hatten und dafür nun mundtot gemacht worden waren. Karls Vater, in den 60iger Jahren Leiter einer erfolgreich wirtschaftenden LPG, war nun, zu Beginn der 80iger Jahre ganz und gar resigniert und verbittert. Das Streben und der Zwang der Partei, in der Landwirtschaft immer größere Strukturen zu schaffen, hatten unübersichtliche Betriebe geschaffen. Schlendrian war eingezogen, die Tiere wurden vernachlässigt, Maschinen nicht mehr gewartet. Die Ernte kam wegen Trägheit oder wegen fehlender Einzelteile nicht rechtzeitig vom Feld, und der Berufsstand sank im Ansehen. Karls Vater erklärte, die Parteibonzen hätten sein Lebenswerk zerstört. Karls Mutter arbeitete im Stall bei den Kälbern.

      Viele Menschen waren sie nach diesem schrecklichen Krieg, dem Zweiten Weltkrieg, angetreten, eine Welt zu schaffen, in der keine Kriege mehr möglich waren. Doch wohin hatten Beths Eltern geschaut, als 1953 die Panzer durch die Berliner Stalinallee rollten, als ganz Ungarn 1956 blutete und als 1968 eine demokratische Revolution in der Tschechoslowakei mit russischer Waffengewalt zerschlagen worden war? Wie hatten sie all diese Ereignisse mit ihrem Gerechtigkeitssinn vereinbart? Oder hatten sie keinen? Sie hatten diese Dinge vergessen, soweit ein Mensch dazu fähig ist zu vergessen. Totgeschwiegen. Bei Widerspruch niedergeschrien.

      Beth versuchte, sich mit den Eltern zu verständigen. Erzählte von ihren Begegnungen im Seminar. Zwischen den Eltern und Beth war es, wie es in ihren Kindertagen gewesen war, soweit Beth sich zu erinnern vermochte: Vater vertrat immer genau die Meinung, die der eigenen widersprach. Mutter blieb ihrer alten Position treu: das Kind hatte unrecht. Doch diesmal lernte Beth schnell. Sie gab auf. Sie ließ sich nicht mehr vorwerfen, sie hätte falsch verstanden, falsch geschlussfolgert, boshaft ausgelegt, übel nachgeredet. Beth begann, sich in Schweigen zu hüllen.

      Beth. drei.

      Karl erklärte Beth die Welt. So wie man sie zu sehen hatte. Jedenfalls war er davon überzeugt.

      Karl zeigte Beth, wie man beim Pferderennen Geld machen konnte. Er liebte es, Wetten abzuschließen. Natürlich musste man sich auskennen. Welcher Jockey arbeitete erfolgreich? Welches Pferd war gerade in Hochform? Karl war oft auf der Trabrennbahn. Soweit es sein Nebenjob im Studentenclub erlaubte. Aber die meiste Zeit seiner Freizeit verbrachte er dort, an der Theke. Neben dem Verdienst brachten die Wochenende-Abende auch viel Trinkgeld ein. Und den Alkohol umsonst.

      Karl war ein richtiger Kerl. Er konnte schuften wie ein Ochse. Der Schweiß rann ihm in Strömen über den Körper, aber Karl strahlte übers ganze Gesicht, voller Stolz auf seine Männlichkeit, und wühlte nach einem kurzen Blick weiter. Auf dem Hof der Eltern gab es immer Arbeit. Karls Eltern wohnten in einem eigenen Haus. Dessen Umbau hatte gerade erst begonnen. Dann war da noch ein Stall für 300 Hühner. Die Tiere mussten versorgt, der Stall ausgemistet werden. Und dann noch der Garten, voller Gemüse. Was die sechsköpfige Familie nicht aufbrauchte, wurde Gewinn bringend im Konsum nebenan verkauft.

      Karl konnte auch trinken wie ein richtiger Mann. Eine Flasche Schnaps und eine Reihe Bier gingen auf sein Konto in einer langen Nacht des Clubs. Drei Einsätze pro Woche waren nötig, wenn das Geld verdient werden sollte, was Karl im Monat verbrauchte.

      Karl hatte das Nebeneinander von Studium, Jobben und Alkohol gut im Griff. Seine Prüfungen im Studium bestand er. Immer grade eben so, aber ohne Nacharbeit oder Auffälligkeiten. Nur manchmal schlug der Alkohol zu. Völlig unerwartet fiel Karl in einen Vollrausch, so jedenfalls erklärte er es immer hinterher Beth, wenn sie ihn zur Rede stellte. Karl hatte dann alle Kontrolle über seine Körperfunktionen verloren und erwachte gegen Morgen in seinem eigenen Dreck, ohne sich an irgendwelche Einzelheiten der Nacht erinnern zu können.

      Wenn Beth ihn in solchen Momenten erlebte, fiel er in ein großes Jammern. Peinlich berührt bereute er die Maßlosigkeit vom Abend, grübelte laut über die Ursachen seines Versagens nach und versprach Besserung. Ja, er bat Beth sogar um Hilfe. Sie solle doch, wenn er wieder einmal die Flasche nicht stehen lassen könne, ihm einen heimlichen Stups geben. Dann würde er schon aufhören zu trinken und alles würde gut.

      Den Tag über gingen Beth und Karl jeder seinem Alltag nach. Die Nächte aber verbrachten sie meistens gemeinsam. Mal bei ihr, mal bei ihm, je nachdem, wessen Zimmerpartner gerade nicht am Ort war.

      Karl war der erste Mann, mit dem Beth schlief. Sie hatte das Gefühl, mit ihren neunzehn Jahren eine alte Jungfer zu sein. Er liebte sie zweifellos sehr stark. Jeden Augenblick schmuste und betätschelte er sie. Eigentlich hatte sie Angst davor, sich ihm hinzugeben. Aber eines Tages, als sie noch den Tag vor sich hatten, begann sie sich vor ihm auszuziehen. Karl hatte nie einen Hehl um seine vielen Frauenbekanntschaften gemacht. Beth fürchtete ihn zu verlieren, wenn sie sich ihm nicht anbot.

      Sein Beiwohnen tat ihr weh. Sie war so stark verkrampft, dass er nicht wirklich in sie einzudringen vermochte. Beide waren ratlos. Seine zahlreichen Erfahrungen halfen hier auch nicht weiter. Er ließ von ihr ab. Sie