Ich schließe die Augen und versuche mich so weit wieder zu beruhigen, dass ich mich nicht mit ihm streite. Denn er kann nichts dafür, dass mir die Koffer vom Wagen gerutscht sind und ich keine Ahnung habe, wo ich hin muss.
Erst, als ich sie wieder öffne, stelle ich fest, dass er abwartend und ruhig vor mir steht. Er macht keine Anstalten, sich von mir abzuwenden.
„Wieso so neugierig?“, fahre ich ihn dennoch schärfer an, als ich es beabsichtigt habe. Sofort beiße ich mir auch auf die Zunge, damit nicht noch mehr aus meinem Mund kommen kann.
Mir ist klar, dass es nicht gerade fair ist, wenn ich meine schlechte Laune an ihm auslasse. Und eigentlich will ich das auch gar nicht. Ich kann es aber auch nicht verhindern.
„Ich habe ein Gespür dafür, wenn jemand meine Hilfe braucht.“ Während er spricht, grinst er mich frech an. Ich kann gerade noch verhindern, dass ich genervt die Augen verdrehe. Das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist von einem Macho angegraben zu werden. Allerdings hat er Recht. Ich brauche Hilfe, um mich zurechtzufinden.
„Ja, ich könnte wirklich Hilfe gebrauchen“, erwidere ich deswegen. Dabei behalte ich im Kopf, dass er wohl genauso wenig wie ich weiß, wo der Bus abfährt.
„Heraus mit der Sprache“, fordert er mich auf.
„Ich versuche herauszufinden, von wo der Bus nach Tarpon Springs fährt.“
Kaum habe ich ausgesprochen kann ich erkennen, wie er mich ein wenig verwundert ansieht.
„Was gibt es denn in Tarpon Springs?“
„Ich wüsste zwar nicht einen Grund, was es dich angeht, aber dort wohnt meine Familie.“ Mehr sage ich nicht.
Einige Sekunden stehe ich so vor ihm. Ich kann das belustigte Funkeln erkennen, mit dem er mich bedenkt. Mein Verstand sagt mir, dass ich endlich nach dem Bus Ausschau halten soll. Deswegen schiebe ich mit großen Schritten den Wagen an ihm vorbei. Doch als ich mich mit ihm auf einer Höhe befinde, greift er plötzlich nach meinem Handgelenk.
Diese harmlose Berührung sorgt dafür, dass mir heiß wird. Ich nehme nur noch ihn wahr. Mir ist klar, dass meine Reaktion auf ihn gefährlich ist, doch ich kann es auch nicht verhindern. Beinahe kommt es mir so vor, als würde er mich gefangen halten. Auf eine gute Art und Weise.
„Der Bus fährt von dort.“ Er zeigt an mir vorbei nach rechts.
Kurz betrachte ich ihn, bevor ich es schaffe, mich von ihm loszureißen und seinem ausgestreckten Arm zu folgen. Und tatsächlich erkenne ich dort einen Bus, an dem Tarpon Springs auf der Anzeige steht.
Beinahe erleichtert darüber atme ich tief durch.
„Vielleicht sehen wir uns mal wieder.“
„Ja, vielleicht“, gebe ich nur zurück, obwohl ich selber nicht daran glaube. Das müsste schon ein sehr großer Zufall sein, wenn er mir noch einmal über den Weg läuft.
„Bye“, sage ich und gehe endgültig in die Richtung des Busses.
Während ich mich weiter von ihm entferne, spüre ich seine Blicke in meinem Rücken. Ich möchte einen letzten Blick auf ihn erhaschen. Doch auch, als ich mich in die lange Schlange einreihe, zwinge ich mich dazu, ihm weiterhin nicht zu beachten.
„Danke“, sage ich zu dem Busfahrer, nachdem er meine Koffer in den entsprechenden Stauraum geladen hat. Während ich einsteige, versuche ich ihn wieder auszublenden. Ich will diesen geheimnisvollen Typen aus meinem Kopf bekommen. Doch kaum gehe ich den Mittelgang entlang, schaue ich doch noch einmal zu der Stelle, an der wir uns unterhalten haben.
Doch nun ist er nicht mehr alleine. Drei Männer, die alle große Ähnlichkeit zueinander haben, stehen neben ihm. Angeregt unterhalten sie sich, bevor er noch einmal in die Richtung des Busses sieht.
Auch wenn mir klar ist, dass es total lächerlich ist, schließlich wird er mich kaum noch erkennen können, drehe ich mich schnell weg und suche mir einen freien Platz auf der anderen Seite.
Müde stecke ich mir die Kopfhörer in die Ohren und schließe meine Augen.
2
Die Fahrt von Orlando nach Tarpon Springs dauert zwei Stunden. Währenddessen versuche ich ein wenig zu schlafen. Doch ich bekomme keine Ruhe. Zum einen liegt es daran, dass ich mir wünsche in meinem Bett zu liegen, was eindeutig bequemer wäre, als mich aufrecht auf einem unbequemen Sitz zu befinden. Ich will mich unter eine dicke Decke kuscheln, anstatt meinen Kopf an eine harte Scheibe lehnen zu müssen und jedes Mal durchgerüttelt zu werden, wenn der Bus durch ein Schlagloch fährt.
Zum anderen trägt der Typ aber auch seinen Teil dazu bei, dass ich keine Ahnung habe, wie ich ruhiger werden soll. Er will mir nicht aus dem Kopf gehen, was ich aber vor allem auf seine geheimnisvolle Art schiebe. Wir haben uns nur oberflächlich unterhalten, und dennoch hat er es geschafft, sich in meine Gedanken zu schleichen.
Leise grummelnd drehe ich die Musik auf meinem Handy noch ein wenig lauter, wobei ich darauf achte es nicht zu übertreiben, um die anderen Fahrgäste nicht zu stören. Ich mache sie laut genug, dass ich die Unterhaltungen, die um mich herumgeführt werden, nicht mehr hören kann. Bringen tut es aber nichts. Deswegen starre ich hinaus und schaue mir die Landschaft an, an der wir vorbeifahren.
Als der Bus endlich ankommt, tut mir jeder einzelne Knochen weh. Da ich einen Platz am Fenster erwischt habe, konnte ich mich kaum bewegen, geschweige denn die Beine einmal ausstrecken. Erst dachte ich, dass das eine gute Idee wäre, nun bin ich mir sicher, dass es genau das nicht war.
Ja, die Ankunft in meinem neuen Leben war nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. Doch ich habe nicht vor, mich davon runterziehen zu lassen. Ich habe mich schließlich nicht dazu entschieden, ins sonnige Florida zu ziehen, um mit schlechter Laune zu starten, auch wenn ich die vorhin hatte. Nein, ich werde nun in die hinterste Ecke verschieben.
Schnell verlasse ich den Bus und nehme meine Koffer entgegen, die der Busfahrer herausstellt. Ich entferne mich ein paar Schritte und schaue mich nach einem freien Taxi um. Doch bevor ich eines entdecken kann, taucht eine Person vor mir auf, die es schafft, dass sich ein glückliches Lächeln auf meinem Gesicht bildet.
Winkend steht meine Stiefmutter Monica neben ihrem Wagen und grinst von einem Ohr bis zum anderen. In ihrer kurzen Hose und ihrem engen Oberteil sieht sie ein paar Jahre jünger aus, als sie es eigentlich ist. Ihre roten Haare hat sie zu einem Zopf gebunden, sodass sie ihr nicht im Gesicht hängen. Leichtes Make-up erhellt ihre sonnengebräunte Haut.
„Hi“, rufe ich zur Begrüßung und gehe so schnell wie möglich zu ihr.
„Es tut mir so Leid. Heute herrscht ein totales Chaos. Obwohl, nein. Das geht schon seit ein paar Tagen so. Hätte ich gewusst, dass dein Dad keine Zeit hat, dich zu holen, hätte ich schon viel eher Feierabend gemacht und wäre zum Flughafen gefahren. Aber er hat mir erst vor einer Stunde Bescheid gegeben. Und da warst du schon unterwegs. Da brauchte ich mich auch nicht mehr auf den Weg zu machen.“
„Geht es ihm gut?“, erkundige ich mich. Ich muss zugeben, dass er zwischendurch schon schusselig ist und auch mal Dinge vergisst, wenn er viel um die Ohren hat. Aber so ein Verhalten kenne ich nicht von ihm. Deswegen mache ich mir nun doch ein wenig Sorgen.
„Ja, alles bestens“, antwortet Monica und winkt ab. „Er hat nur soviel um die Ohren, dass er kaum zum Essen kommt. Sie sind auf dem Revier zurzeit unterbesetzt. Und für diejenigen, die da sind, ist es einfach zu viel.“
„Oh“, sage ich nur. Als Polizist schiebt er öfters Überstunden, als es ihm lieb ist. Man sollte eigentlich meinen, dass er damit angefangen hat weniger zu arbeiten, als er älter geworden ist. Doch es kommt mir so vor, als wäre es eher das Gegenteil. Und ich bin mir sicher, dass auch Monica es bereits gemerkt hat.