Geisterenthüller John Bell. Erik Schreiber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Erik Schreiber
Издательство: Bookwire
Серия: Übersinnliche Detektive
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753198316
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stolz. Waren ihre Züge entspannt, wirkte sie ein wenig hochmütig. Aber in dem Moment, in dem sie sprach, wurde ihr Gesicht äußerst lebhaft, freundlich und liebenswert. Sie hatte ein fröhliches Lachen, ein süßes Lächeln und eine sympathische Art. Ich war sicher, sie hatte ein gutes Herz, und auch, dass Allen eine vorzügliche Wahl getroffen hatte.

      Es vergingen ein paar Tage und es kam der letzte Abend vor meiner Rückreise nach London. Phyllis‘ Mutter war kurz zuvor zu Bett gegangen, da sie an Kopfschmerzen litt, und Allen schlug plötzlich vor, dass wir vor die Tür gehen und einen Spaziergang im Mondlicht machen sollten, die Nacht sei perfekt dafür.

      Phyllis lachte bei dem Vorschlag vor Vergnügen auf und rannte sogleich in die Eingangshalle, um einen Umhang vom Haken zu nehmen.

      „Allen“, sagte sie zu ihrem Liebsten, der ihr folgte, „du und ich, wir werden vorangehen.“

      „Nein, junge Lady, in diesem Fall werden Sie und ich dieses Privileg haben“, sagte Sir Henry. Er war ebenso in die Eingangshalle gekommen und kündigte zu unserem Erstaunen seine Absicht an, uns auf unserem Spaziergang zu begleiten.

      Phyllis bedachte ihn mit einem überraschten Blick, dann legte sie ihre Hand sanft auf seinen Arm, nickte Allen mit einem Lächeln zu und ging recht zügig voraus. Allen und ich folgten nach.

      „Nun, was bezweckt mein Vater damit?“, fragte mich Allen. „Er verlässt niemals bei Nacht das Haus. Aber in letzter Zeit ging es ihm nicht gut. Ich denke manchmal, er wird jeden Tag komischer.“

      „Ich bin sicher, er ist weit entfernt von Wohlbefinden“, antwortete ich.

      Wir waren etwa eine halbe Stunde unterwegs und kehrten auf einem Pfad zurück, der durch einen Nebeneingang ins Haus führte. Phyllis erwartete uns in der Eingangshalle.

      „Wo ist mein Vater?“, fragte Allen, als er zu ihr ging.

      „Er war müde und ist zu Bett gegangen“, antwortete sie „Gute Nacht, Allen.“

      „Möchtest du nicht mit in den Salon kommen?“, fragte er mit einigem Erstaunen.

      „Nein, ich bin müde.“

      Sie nickte ihm zu, ohne seine Hand zu berühren. Ich kam nicht umhin zu bemerken, dass ihre Augen einen seltsamen Ausdruck hatten. Sie rannte nach oben.

      Ich sah, dass Allen verwundert über ihr Verhalten war. Aber da er nichts sagte, schwieg auch ich.

      Am nächsten Tag beim Frühstück wurde mir mitgeteilt, dass die Curzons schon die Abtei verlassen hätten. Allen war völlig erstaunt und auch, das konnte ich sehen, zu einem guten Teil verärgert. Er und ich frühstückten alleine in der alten Bibliothek. Sein Vater fühlte sich zu krank, um herunterzukommen.

      Eine Stunde später befand ich mich auf meinem Weg zurück nach London. Einige Dinge dort erforderten meine unverzügliche Aufmerksamkeit und Allen, seine Verlobung, Sir Henry und der alte Familienfluch verdrängte ich in meinem Hinterkopf.

      Drei Monate später, am siebten Januar, sah ich zu meinem Bedauern in der Times die Todesanzeige von Sir Henry Clinton.

      In der Zwischenzeit hatte ich dann und wann von seinem Sohn gehört, dass sein Vater stark abbaute. Er erwähnte weiterhin, dass seine eigene Vermählung für den einundzwanzigsten diesen Monats angesetzt wäre. Jetzt musste sie natürlich verschoben werden. Es tat mir wirklich leid für Allen und ich schrieb sogleich einen langen Kondolenzbrief.

      Am folgenden Tag erhielt ich ein Telegramm von ihm, in dem er mich inständig bat, so schnell wie möglich nach Clinton Abbey zu kommen, denn er wäre in großen Schwierigkeiten. Ich packte rasch ein paar Dinge zusammen und kam um sechs Uhr am Abend in Clinton Abbey an. Das Haus wirkte still und bedrückt – die Beisetzung sollte am nächsten Tag stattfinden. Clinton kam in die Eingangshalle und ergriff mich innig bei den Händen. Ich bemerkte sofort, wie abgespannt und besorgt er aussah.

      „Das ist sehr nett von Ihnen, Bell“, sagte er. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich bin, dass Sie gekommen sind. Sie sind der Einzige, der mir helfen kann, denn ich weiß, dass Sie viel Erfahrung in solchen Dingen haben. Kommen Sie in die Bibliothek und ich werde Ihnen alles erzählen. Wir werden diesen Abend alleine speisen, da meine Mutter und die Mädchen diese Nacht in ihren eigenen Wohnungen bleiben.“

      Sobald wir uns gesetzt hatten, begann er ohne Umschweife mit seiner Geschichte.

      „Ich muss Ihnen eine kleine Einführung geben zu dem, was gerade passiert ist. Sie erinnern sich, als Sie das letzte Mal hier waren, wie plötzlich Phyllis und ihre Mutter die Abtei verlassen haben?“

      Ich nickte. Ich erinnerte mich gut.

      „Am Morgen, nachdem Sie uns abgereist waren, erhielt ich einen langen Brief von Phyllis“, fuhr Allen fort. „Darin erzählte sie mir von einer außergewöhnlichen Bitte, die mein Vater während dieses Spaziergangs im Mondschein an sie gerichtet hatte – nicht mehr und nicht weniger als den ernsthaften Wunsch, dass sie unsere Verlobung von sich aus beenden würde. Sie sprach sehr offen, wie sie es immer tut, versicherte mir ihre unveränderte Liebe und Ergebenheit, sagte aber, dass unter diesen Umständen eine Erklärung absolut unabdingbar wäre. Rasend vor Wut suchte ich meinen Vater in seinem Arbeitszimmer auf. Er sah mich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Erschöpfung und Pathos an.

      ‚Ja, mein Junge, das habe ich getan‘, sagte er. ‚Phyllis hat recht. Ich bat sie, so eindringlich ein alter Mann bitten kann, dass sie die Verlobung auflöst.‘

      ‚Aber warum?‘, fragte ich. ‚Warum?‘

      ‚Das kann ich dir nicht sagen‘, antwortete er.

      Ich verlor die Beherrschung und sagte Dinge zu ihm, die ich jetzt bereue. Er gab keinerlei Antwort. Als ich fertig war, sagte er langsam:

      ‚Ich gestehe dir all deine Wut zu, Allen. Deine Gefühle sind nur natürlich.‘

      ‚Du hast mich sehr tief verletzt‘, erwiderte ich. ‚Was soll Phyllis davon halten? Sie wird nie wieder dieselbe sein. Ich werde sie heute noch treffen.‘

      Er sagte kein Wort und ich ging. Ich war etwa eine Woche von zu Hause weg. Ich brauchte fast diese ganze Zeit, Phyllis zu überzeugen, diese außergewöhnliche Bitte meines Vaters zu übergehen und alles wieder so werden zu lassen, wie es vorher gewesen war. Nachdem ich unsere Verlobung gefestigt, wenn das möglich ist, fester als je zuvor, und auch das Datum für die Vermählung arrangiert hatte, kehrte ich nach Hause zurück. Danach erzählte ich meinem Vater, was ich getan hatte.

      ‚Wie du willst‘, antwortete er und dann versank er in tiefe Trübseligkeit. Von diesem Moment an, obwohl ich Tag und Nacht über ihm wachte und alles tat, was Liebe und Zärtlichkeit bieten können, schien er sich nicht zu erholen. Er sprach kaum und verharrte, wann immer wir zusammen waren, in tiefer und schmerzvoller Zurückgezogenheit. Vor einer Woche schlief er für immer ein.“

      Hier machte Allen eine Pause.

      „Ich komme jetzt zu den neuesten Vorkommnissen“, sagte er. „Natürlich war ich, wie Sie annehmen werden, bis zuletzt bei meinem Vater. Wenige Stunden, bevor er verstarb, rief er mich an sein Bett und zu meiner Verwunderung begann er nochmal über meine Verlobung zu sprechen. Selbst jetzt, zur elften Stunde, flehte er mich mit größter Eindringlichkeit an, sie aufzulösen. Es wäre nicht zu spät, sagte er, und fügte dann hinzu, dass nichts in der Welt ihm das Sterben mehr erleichtern würde als das Wissen, dass ich ihm versprechen würde, unverheiratet zu bleiben. Natürlich versuchte ich, ihm das Herz nicht unnötig schwer zu machen.

      Er nahm meine Hand und sah mir mit einem Ausdruck in die Augen, den ich niemals vergessen werde. Dann sagte er: ‚Allen, mach mir das feierliche Versprechen, dass du niemals heiraten wirst.‘ Dies musste ich natürlich ablehnen und dann erzählte er mir, dass er mir in Erwartung meiner Widerspenstigkeit einen Brief geschrieben habe, den ich in seinem Tresor finden würde, aber ich dürfe ihn nicht vor seinem Tode öffnen. Ich fand ihn heute Morgen. Bell, es ist das außergewöhnlichste Schreiben, das ich je gelesen habe. Entweder es ist ein reines Gebilde seiner Einbildung, denn seine geistigen Kräfte ließen zuletzt stark nach, oder es