Renaissance 2.0. Christian Jesch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Jesch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754127636
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schon wieder hinlegen, als ihm die leere Matratze auffiel. Veizs wurde schlagartig deutlich, dass der Streit etwas mit Neniu zu tun haben könnte. Er setzte sich auf und blickte durch die Holzbretter der Palettentür. Drei aggressive Jugendliche hatten sich um den Jungen geschart und bedrängten ihn. Eigentlich hielt er sich aus solchen Dingen raus, da sie immer Nachteile nach sich zogen. Doch er konnte den Jungen nicht seinem Schicksal überlassen. Neniu hatte nicht die geringste Chance das zu überstehen. Mit einem kräftigen Seufzer stand er auf und verließ die Unterkunft. Als Veizs bis auf wenige Meter herangekommen war, rief er die Jugendlichen an.

      "Hey, Katan. Was ist los? Warum der Lärm?"

      "Der Kerl schleicht seit gestern Abend hier herum. Wir brauchen keine Neuzugänge in diesem Teil der Stadt. Wir haben schon genug Probleme mit den Asylaken, die sich breit machen, obwohl sie alles von der scheiß Regierung bekommen."

      "Das stimmt vollkommen, Katan. Deswegen sollten wir uns lieber um die kümmern, als einen Jungen wie Neniu, der nicht weiß, wo er hin soll."

      "Neniu?", wiederholte Katan mit gerunzelter Stirn. "Der Unbekannte? Kennst du ihn?"

      "Gewissermaßen. Ich habe ihn gestern Nacht in meiner Unterkunft vorgefunden. Der Kerl ist arm dran. Er hat einen totalen Gedächtnisverlust und kann sich immer nur an die letzten paar Stunden erinnern."

      Katan schaute zu dem Jungen herüber, der sich einige Meter von der Gruppe distanziert hatte. Er konnte ihm ansehen, wie viel Angst der Teenie hatte. Auch begriff Katan, warum der Junge sich nicht sofort aus dem Staub machte, als er ihn und seine Freunde wiedergesehen hatte. Neniu konnte sich nicht an sie erinnern.

      Für den Jungen lief die ganze Situation wie ein Stummfilm ab. Er beobachtete, hörte aber die Worte nicht. Stattdessen überlegte Neniu fieberhaft, was er am besten machen sollte. Er hatte in diesem plötzlich auftauchenden jungen Kerl wohl jemanden gefunden, an den er sich nicht erinnern konnte und von dem er nicht wusste, was er von ihm halten sollte, der aber ein scheinbares Interesse an ihm hatte. Er war wohl jemand, der für ihn da war. Wenn er sich doch nur daran erinnern könnte, was vor ein paar Stunden in der Nacht passiert war. Der Teenie konnte sich nur daran entsinnen, dass dieser Jugendliche ihm etwas auf den Handrücken geschrieben hatte. Mein Name ist Neniu, las er dort. Das stammte von ihm. Jetzt nahm der Straßenjunge ihn in Schutz. Das musste doch bedeuten, dass er ihm helfen wollte.

      "Weißt du, ob er ein Asylake ist?", wollte jetzt einer der anderen aus Katans Gruppe wissen. "Wenn er einer ist, gibt es keinen Sonderstatus für ihn. Das weißt du hoffentlich, Veizs."

      "Jetzt halt mal die Luft an", unterbrach Katan seinen Mitstreiter.

      "Woher soll ich das wissen, wenn Neniu noch nicht einmal sagen kann, wie sein eigentlicher Name ist. Sein Gehirn ist wie eine Festplatte, auf der zwar noch das Betriebssystem ist, alle anderen Programme und Dateien jedoch gelöscht wurden."

      "Was ist sein Gehirn?", erkundigte sich nun der dritte Jugendliche, dem der Vergleich offensichtlich zu hoch war.

      "Ganz einfach", antwortete Katan. "Dir fehlt die Festplatte vollständig. Neniu kann wenigstens aufrecht gehen, was du nicht kannst. Und jetzt halt die Klappe." An Veizs gewandt fuhr er fort. "Ich denke, es ist in Ordnung, wenn er hier bleibt. Aber sorge dafür, dass du immer in seiner Nähe bist. Ich kann für mich und meine Leute bürgen. Nicht aber für all die anderen Freaks auf der Straße."

      "Ich passe schon auf ihn auf", antwortete Veizs, während er sich zu Neniu umdrehte – der nicht mehr da war.

      Der junge Teenie konnte sich nicht vorstellen, dass die Diskussion über ihn gut ausgehen könnte. Deswegen hatte er beschlossen, sich der Gegebenheit zu entziehen. Ihm war schon bewusst, sich jetzt erneut ins Ungewisse zu stürzen. Trotzdem war ihm dieser Gedanke lieber, als die Ungewissheit in dieser Lage. Neniu begab sich in die Richtung, von der er glaubte, das sie ihn ins Stadtzentrum bringen würde. Hier am Rande war der Verkehr nur mäßig und die Passanten wenige. Das änderte sich allerdings mit jedem Kilometer, der ihn dem Zentrum näher brachte. Nicht nur, dass die Fahrzeuge dort mehr standen als fahren konnten. Nein auch die Menschen auf den Gehwegen quetschten sich nur noch aneinander vorbei. Viele stießen Flüche und Verwünschungen aus. Manche boxten sich regelrecht durch die Menschenmenge ohne Rücksicht auf Verluste. Andere wiederum schubsten die übrigen Passanten auf die Straße, wo die Autos ihnen nur selten ausweichen konnten. Einige Fahrer stiegen sogar aus ihren Fahrzeugen aus, um handgreiflich gegen diejenige Person zu werden, die gegen ihren Wagen geprallt war. Nenius Angst wurde immer stärker. Fast klaustrophobisch. Doch er konnte nicht anders, als mit der Masse weiter in Richtung Innenstadt zu treiben.

      "Diese verdammte Stadt wird immer voller", beschwerte sich ein Mann bei seinem Nachbarn. "Und dann auch noch diese ganzen Asylaken."

      "Die Regierung sollte alle ohne Herkunftsnachweis sofort wieder aus dem Land werfen. Es ist doch nicht die Aufgabe unserer Beamten, herauszufinden wo einer von denen her kommt", erwiderte dieser zustimmend.

      "Und dann benehmen die sich auch noch, als wäre das hier ihr Zuhause, nicht das unsere."

      "Genauso ist das. Was hat sich diese Mår-quell nur dabei gedacht. Statt sich um uns zu kümmern, kümmert sie sich nur um ihr Ansehen im Ausland."

      Die zwei Männer bogen in eine Seitenstraße und führten dort ihr Gespräch weiter. Neniu wäre auch gerne in diese Straße abgebogen, da sie weitaus leerer war, aber er konnte sich nicht gegen die Masse durchsetzen. Er überlegte gerade, was wohl passieren würde, wenn er einfach die Beine vom Boden nahm. Würde ihn die Vielzahl an Fußgängern weitertragen oder fiele er hin, um dann niedergetrampelt zu werden. Er vermutete das Erstere, da er jetzt gezwungen war leicht rechts mit der Horde in eine weitere Straße abzuzweigen.

      "Das ist doch ein völliger Irrsinn, was diese Eternal Union alles bestimmt. Und die Senatorin hat nicht genügend Rückgrat , um sich dagegen zu stemmen."

      "Was heißt hier Rückgrat", mischte sich eine Frau in das Gespräch ein. "Ihr geht es doch gut dabei. Die braucht sich doch so oder so keine Sorgen machen. Die Folgen tragen doch wieder einmal wir, nicht sie und ihre reichen Parteigenossen mit ihren Vorstandssitzen in drei Multiunternehmen.."

      "Das ist richtig", ereiferte sich jetzt eine dritte Person. Diese EtUn besteht doch nur aus den Reichen und Mächtigen, die ganz weit über uns thronen und alles haben. Und dann ist da noch dieser Kerl, der sagt, wir zahlen zu wenig in die Nationale Abwehr und Territorial Organisation. Unsere Regierung sollte besser in uns investieren."

      "Ich sage raus aus der Eternial Union. Raus aus der Nationalen Abwehr und Territorial Organisation. Wir müssen neutral werden. Dann gibt es auch keine Kriege mehr, wie den letzten."

      "Genau", stimmten die anderen beiden zu.

      Neniu versuchte zum ersten Mal etwas von der Stadt zu erhaschen. Die meisten Leute um ihn herum waren größer als er. Doch in dieser Straße war es nicht so gedrängt voll. Die gläsernen Wolkenkratzer um ihn herum hatte er schon vorher bemerkt. Sie waren unübersehbar mit ihren riesigen Werbehologrammen und den zärtlichen Frauenstimmen, die alles mögliche anpriesen. Jetzt sah er aber auch andere, ältere Hochhäuser, die stark zerstört waren. Manche lagen umgestürzt und in Trümmern auf dem Boden. Andere wiederum wiesen große Löcher auf, aus denen die Stahlkonstruktionen hervorragten. Dazwischen fanden sich Parkhäuser, Backsteinbauten, kleinere Läden und noch viel mehr. Über allem schwebten Zeppeline, welche die politischen Heldentaten der Regierung verkündeten. Gerade wurde das Gerichtsurteil über einen Asylaken, der ein junges Mädchen missbraucht und danach ermordet hatte, verkündet. Drei Jahre auf Bewährung.

      "Das ist doch wohl ein Hohn. Solche Leute sollte man in Einzelhaft stecken und den Schlüssel wegwerfen.", rief jemand aus der Menge.

      "Genau, so und nicht anders", antwortete ihm ein weiterer Unbekannter. "Nachher wird der noch aufgrund seines Asylakenstatus in zweiter Instanz freigesprochen."

      "Da könnt ihr euren Hintern drauf verwetten", brüllte eine Frau. "Wenn der das Gefängnis von Innen sieht, renne ich nackt durch die Stadt."

      "Die gehören in ein Arbeitslager", rief jetzt die zweite Stimme.

      Plötzlich stockte das Heer