Im selben Augenblick sprang auch Neniu auf, um in die andere Richtung zu rennen. Tandra war in einem Zwiespalt. Sie machte erste Schritte in Richtung Kaziir, bevor sie sich um entschloss, Neniu einholte und wieder auf den Asphalt warf.
"Was hast du vor?", brüllte sie den Jungen an.
"Was wohl?", antwortete dieser aggressiv. "Ich will hier weg."
"Und wohin willst du? Verdammt, such dir eine Deckung und warte. Hast du mich verstanden?" Tandra wurde wütend über das egoistische Verhalten des Teenie. Erneut schaute sie zu der Renegatin herüber. Sie lag immer noch an derselben Stelle. "Wir müssen erst Kaziir helfen, dann kannst du wegrennen. Hast du das kapiert?"
Neniu schaute erst Tandra, dann die Renegatenanführerin unsicher an. Wie sollte er ihnen helfen? Er war weder kugelsicher noch besonders schnell. Wieder einmal schlug eine Kugel ein. Diesmal nicht unweit von Tandra und Neniu. Dann eine vierte und eine fünfte. Langsam wurde auch Tandra deutlich, dass sie unter diesem Beschuss nichts ausmachen konnten. Ein letztes Mal schaute sie zu ihrer Schwester, die mittlerweile mithilfe von Doktor Deivo ins Haus gebracht wurde. Erleichtert und gleichzeitig hoffnungslos wendete sie sich vom Schauplatz ab, um mit Neniu in Richtung der Innenstadt zu fliehen. Wenn sie doch nur wüsste, was Kaziir passiert war. Warum hatte sie sich nicht so schnell wie möglich in Sicherheit gebracht?
Doktor Deivo hatte seinen Kollegen aus dem Nachbarhaus gerufen, der bereits beim ersten Schuss durch die Verbindungstür zur Straße hin gelaufen war. Als jedoch die weiteren Projektile einschlugen, bevorzugte er es doch, zunächst an der Haustür von Deivo abzuwarten. Erst das hektische Winken und Rufen seines Kollegen brachte ihn dazu, auf die Straße zu treten. Schnell erkannte auch er, dass mit der Frau etwas nicht stimmte. Sie versuchte sich kriechend umzudrehen und hinter die ein Meter zwanzig hohe Mauer des kleinen Vorgartens zu kommen. Kaziir erschien ihm wie ein Wurm, der vor einem großen Vogel flüchtete und doch nicht schnell genug war.
"Nun kommen Sie schon", schrie Doktor Deivo seinem Kollegen zu. "Wir müssen sie ins Haus bekommen. Beeilen Sie sich."
"Ist gut", rief Kasan zurück. "Ich komme schon." Ängstlich blickte der Mann die Straße noch einmal nach rechts und links hinunter, dann stieß er sich mit den Armen vom Türrahmen ab und rannte auf Deivo zu. Der hatte sich bereits zu Kaziir gesellt und befragte sie.
"Was ist mit ihnen?"
"Irgendwie gehorchen meine Beine mir nicht mehr. Ich verstehe das nicht."
Doktor Deivo schaute über ihren Rücken zu den unteren Extremitäten. Er war nicht imstande auf den ersten Blick einen Grund dafür zu erkennen, warum die junge Frau diese nicht bewegen konnte. Ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf. Endlich erreichte sein Kollege ihn. Das Scharfschützenfeuer hatte sich mittlerweile verlagert. Besorgt hielt er nach seinen zwei anderen Besuchern Ausschau. Die lagen einige Meter entfernt auf dem Asphalt und schauten zu ihnen hinüber. Deivo schickte Kasan zurück in seine Praxis, aus der der Mann eine Trage holen sollte. Nur wenig später hoben sie die bewusstlose Frau auf diese und trugen sie langsam, jede Erschütterung vermeidend, in die Praxis von Doktor Kasan. Deivo schaute ein letztes Mal nach den anderen beiden, die gerade um die Ecke seines Grundstückes verschwanden.
"Was zur Hölle war da Draußen los?", platzte es unerwartet aus Kasan heraus.
"Ich kann es ihnen nicht sagen, werter Kollege."
"Ich weiß nicht, ob ich ihnen in dieser Sache helfen möchte. Das scheinen mir einige gefährliche Leute zu sein, mit denen Sie sich da umgeben."
"Kasan, ich kannte diese Menschen bis heute auch nicht. Sie haben mich lediglich darum gebeten, dem Jungen bei seinen Erinnerungen zu helfen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie irgendetwas verbrochen haben. Und abgesehen davon, spielt das in diesem Fall…", dabei deutete er auf Kaziir, "...keine Rolle. Sie sind Arzt und müssen dieser Frau helfen." Sein Kollege stöhnte innerlich auf, nickte dann aber zustimmend. Deivo hatte ja recht. Dieser dumme Ärzteschwur. Im Krieg hatte er auch Soldaten des Feindes wieder zusammengeflickt, obwohl es ihm gegen den Strich gegangen war. Und die Frau war noch nicht einmal ein Soldat. Sie war eine Zivilistin. Möglicherweise galt der Anschlag noch nicht einmal ihr. Vielleicht gehörte sie sogar zu den Guten und es waren diejenigen, die geschossen haben, denen er nicht helfen durfte. Genauso musste es sein. Mit neuer Zuversicht machte sich der Arzt an die Arbeit.
Bevor sie Kaziir umdrehten, wollte Doktor Kasan erst einmal sicher sein, dass nicht irgendetwas an ihrem Rücken der Grund für die Lähmung war. Mit einer großen, beleuchteten Lupe, die über dem Operationstisch, auf dem die Renegatin jetzt lag, angebracht war, betrachtete er jeden Zentimeter. Schließlich stockte der Arzt an einer Stelle kurz über dem Becken. Dort war etwas in ihrer Kleidung. Im ersten Moment dachte Kasan, es wäre einfach nur Dreck, der an ihrem Oberhemd klebte. Bedingt dadurch, dass sie auf die Straße gefallen war. Doch dann erkannter er, dass sich dieser Dreck scheinbar durch die Bekleidung gebohrt hatte. Vorsichtig zog er den Saum des Hemdes aus dem Hosenbund, um dann unter den Stoff zu sehen. Der kleine, scharfe Stein hatte den Stoff sauber durchtrennt und war dann in den Rücken eingedrungen. Direkt am Rückgrat. Kasan hatte eine Ahnung, was passiert war.
"Und?", fragte sein Kollege nervös. "Was sehen Sie?"
"So wie es aussieht, ist ein scharfer, flacher Steinsplitter in die Haut nahe dem Rückgrat eingedrungen. Möglicherweise wurden dadurch einige Nerven in Mitleidenschaft gezogen oder gar durchtrennt."
"Können Sie das wieder in Ordnung bringen?", ertönte plötzlich die Stimme von Kaziir.
"Das ist alles andere als einfach", erwiderte Kasan. "Mir stehen nicht die möglichen Mittel zur Verfügung. Ich muss sie in ein Krankenhaus bringen lassen."
"Das geht nicht", antwortete Kaziir mühsam. "Ich habe schon seit Jahren keine Krankenkassenbeiträge mehr gezahlt. Zu teuer." Sie drehte mühsam den Kopf und versuchte ein Lächeln zu imitieren.
Kasan gab ihr mit demselben mühsamen, schrägen Lächeln zu verstehen, dass er das sehr witzig fand. Dann wurde er wieder schnell ernst. Mit der gleichen Art Humor, wie Kaziir, fordert er sie auf, nicht wegzugehen. Er wäre sofort wieder da. Mit einem mühsamen Daumen hoch gab die Renegatin zu verstehen, dass sie ihn verstanden hat.
"Was ist da vor meinem Haus passiert?", wollte Doktor Deivo jetzt mit Nachdruck wissen, nachdem sein Kollege in einem der hinteren Räume verschwunden war.
"Das würde ich auch gerne verstehen. Normalerweise schießt man nicht auf mich."
"Und wie sieht das mit ihren Begleitern aus. Sind die vielleicht…", weiter kam er nicht, bevor Kaziir ihn unterbrach.
"Tandra? Sie leitet eine Art Wohnheim für Straßenkinder. Warum sollte jemand sie umbringen wollen? Und Neniu. Nun, da kann ich wirklich nichts zu sagen. Über ihn weiß ich eben soviel, wie Sie heute erfahren haben. Es ist bedauerlich, dass wir nicht über seinen Ankunftstag hinaus gekommen sind. Allerdings muss ich zu seiner Verteidigung sagen, wenn er das Ziel war, dann war der Killer ein lausiger Schütze."
"Damit hätten Sie allerdings dann recht." Deivo rief sich das Bild der Verabschiedung noch einmal ins Gedächtnis zurück. Ganz rechts die junge Frau, die jetzt vor ihm auf dem OP lag, in der Mitte die andere und ganz links der Junge. Trotzdem. Der Junge war der einzige aus der Gruppe, von dem man nichts mit Sicherheit sagen konnte. Und dann noch diese Gehirnaktivitäten. Dieser Unbekannte war ein endloses Rätsel. Angenommen, andere wussten auch von seinen Abnormalitäten. Wer hätte dann ein Interesse an ihm? Die Regierung? Die ProTeq? Oder waren es vielleicht sogar die Renegaten, die in ihm eine Art Waffe für deren Zwecke sahen?
"Worüber denken Sie nach?", unterbrach Kasan sein Grübeln.
"Ich denke über den Jungen nach. Ist schon merkwürdig, dass wir so gar nichts über ihn wissen."
"Denken Sie, er wäre eine Gefahr?", mischte sich jetzt Kaziir ein.
"Entweder ist er eine Gefahr oder er ist in Gefahr", philosophierte Doktor Deivo