»Unser Opfer scheint wirklich ein durch und durch unsympathischer Zeitgenosse gewesen zu sein. Wenn nicht mal die eigene Verwandtschaft mit ihm zu tun haben wollte«, fasste Hansen zusammen.
»Nach allem, was wir wissen, ist es nicht sehr unwahrscheinlich, dass sich der Mann Feinde gemacht hat«, stellte Riedmann fest.
»Das denke ich ebenso. Wir müssen nur tief genug graben, dann werden wir diese Person auch finden. Markus und Jens, ich möchte, dass ihr die Anbieter für Sicherheitstechnik überprüft. Laura hat mich eben angerufen und mir von einem Gerät erzählt, mit dem Neumanns Mörder die Alarmanlage überlistet hat. Man nennt sie Jammer. Wir müssen herausfinden, welche Firmen hier im Umfeld über solche Geräte verfügen oder sie sogar verkauft haben in letzter Zeit.«
»Was bitteschön ist ein Jammer?«, hakte Marquardt nach.
»Falls du das genau wissen möchtest, lass es dir von Laura erklären. Mir war das auch zu technisch. Sie wird sich freuen, wenn sie ihr Know-how teilen kann«, erklärte Hansen. »Dann machen wir besser einen Abstecher in die KTU, bevor wir losfahren«, entgegnete Marquardt und gab Beck ein Zeichen, dass er sofort loswollte.
Hansen ahnte, dass es dem Kollegen mehr darum ging, Decker zu besuchen, als sich die Arbeitsweise des Jammers erklären zu lassen. Es war offensichtlich, dass er ein Auge auf die neue Kollegin geworfen hatte. Aber Hansen hatte ja selbst den Vorschlag gemacht. Außerdem wusste Decker sehr gut mit Marquardts Avancen umzugehen. Auch Riedmann folgte den beiden Kollegen zunächst auf den Flur. Doch kaum, dass er Hansens Büro verlassen hatte, kam er schon wieder zurück.
»Die Unterlagen der BStU sind gerade per Eilkurier angekommen«, berichtete er seinem Chef. »Das sind aber laut Inventarliste nicht nur die von Herbert Neumann. Man hat uns auch diverse andere Akten vom K1 geschickt, damit wir uns ein besseres Gesamtbild machen können.«
»Das nenne ich mal unbürokratische und schnelle Hilfe«, entgegnete Hansen.
»Allerdings. Wir haben einige kopierte Akten erhalten und eine DVD hat man uns auch mitgeschickt. Darauf sind die bereits digitalisierten Daten enthalten«, antwortete Riedmann.
»Dann sollten wir keine Zeit verlieren und sofort loslegen. Das ist unsere heißeste Spur.«
Kapitel 9
Einige Stunden später hatten Hansen und Riedmann erst einmal die Nase gestrichen voll von der Aktendurchsicht. Die Unterlagen reichten zurück bis in die siebziger Jahre und waren mit größter Akribie geführt. Die sprichwörtliche deutsche Gründlichkeit war also ganz offensichtlich auch eine der wenigen Tugenden, die Ost- und Westdeutschland gemeinsam hatten. Das Aufgabengebiet des K1 der Volkspolizei war viel umfangreicher, als Hansen gedacht hatte. Zwar hatte Riedmann bereits vorab ein kurzes Dossier dazu erstellt. Aber was sich jetzt zeigte, war, dass Neumann und seine Abteilung fast überall ihre Finger im Spiel gehabt hatten, wenn es um Straftaten in und um Dresden herum ging. Es gab ganz offenbar keine klassische Trennung der Zuständigkeitsbereiche, so wie Hansen das aus den alten Bundesländern kannte. Bis zum Mittag hatten die beiden Ermittler gerade einmal gut die Hälfte des vorliegenden Aktenmaterials gesichtet. Das Schlimmste daran war, dass sie trotzdem bisher keinen Schritt weitergekommen waren. Weder Hansen noch Riedmann hatten verwertbare Hinweise auf ein mögliches Rachemotiv gefunden. Gegen dreizehn Uhr dreißig beschlossen die beiden Ermittler, eine Pause einzulegen und in die Kantine zu gehen. Riedmann bestellte den Kantinenklassiker Fritten mit Currywurst und trank dazu ein Glas Cola. Hansen orderte das Tagesmenü Spaghetti Bolognese und genehmigte sich ein alkoholfreies Bier. Beide Ermittler aßen schweigend. Sie wirkten angespannt und müde. Nachdem Hansen sein Essen beendet hatte, Riedmann war wie üblich schon längst fertig, widmeten sie sich wieder ihren Akten. Der Hauptkommissar schätzte, dass sie damit noch bis zum Mittag des nächsten Tages beschäftigt sein würden. Und mit der Überprüfung der DVD hatten sie bis dato nicht einmal angefangen. Der Gedanke daran ließ Hansen laut aufseufzen. Immerhin hatten sie anhand der vorliegenden Akten bis zum Nachmittag eine Namensliste ehemaliger Kollegen von Neumann aus der Zeit vor dem Mauerfall zusammengestellt. Riedmann schickte die Liste per Mail an die Ermittler in Dresden, mit der Bitte herauszufinden, wer von den aufgeführten Personen noch lebte. Hansen zog in Erwägung, auch diese Leute zu Neumanns Vergangenheit zu befragen, wenn sie mit den Ermittlungen in Aachen nicht weiterkamen. Außerdem wollten sie diese Namen später noch mit den Kontaktdaten aus dem Handy des ermordeten Mannes vergleichen. Die Auswertung des Handys war mittlerweile ergebnislos beendet, wie Laura Decker Hansen zwischenzeitlich mitgeteilt hatte. Bis auf die Telefonnummern seines Arbeitgebers, einiger Kollegen, seines Hausarztes und zweier Personen, von denen man noch nicht wusste, in welchem Verhältnis sie zum Opfer standen, waren keine Nummern gespeichert oder in den Anruflisten. Aber wenigstens war jetzt klar, mit wem das Mordopfer in Kontakt gestanden hatte. In einer zweiten Liste wollten die Ermittler die Personen erfassen, die ein Motiv für späte Rache gehabt haben könnten. Aber wie schon vor der Mittagspause zeichnete sich im weiteren Verlauf der Recherchen ab, dass hierfür kaum jemand infrage kam. Bis zum späten Abend hatten sie gerade einmal zwei Namen in die Liste »potenzielle Tatverdächtige« aufgenommen. Bei beiden Männern handelte es sich um jeweils des Mordes überführte Täter, die laut psychologischem Gutachten ein immenses Gewaltpotenzial besaßen. Aber diese Überprüfung wollten sie auf den morgigen Tag verschieben. Müde und kaum noch fähig, sich nach stundenlangem Lesen der Akten zu konzentrieren, beendeten Hansen und Riedmann gegen neunzehn Uhr ihre Arbeit und machten Feierabend.
Kapitel 10
Mittwoch, 20. September 2017
Der neue Ermittlungstag begann mit einer Frühbesprechung. Neben Hansen hatten sich Riedmann, Beck und Marquardt im Besprechungsraum eingefunden. Auch Laura Decker nahm teil.
»Wer möchte anfangen?«, fragte der Leiter der Mordkommission in die Runde.
»Wenn es den Herren recht ist, würde ich das gerne tun«, ergriff die Leiterin der KTU sogleich das Wort. Sie trug sehr zu Hansens Freude ein Led Zeppelin T-Shirt, auch er mochte die Musik der Altrocker. »Ich habe nämlich nicht viel Zeit«, schob sie hinterher.
»Ich mag Frauen, die die Initiative ergreifen«, meinte Marquardt, der sich geradewegs einen tadelnden Blick seines Chefs einfing.
»Och herm, Jens. Mir war nicht klar, dass du es so nötig hast. Aber na ja. Lassen wir das. Ich fasse mich kurz. Wir konnten kein weiteres Handy lokalisieren, das zum vermuteten Tatzeitpunkt im Haus oder der unmittelbaren Nähe eingeloggt war. Sieht man einmal von den direkten Nachbarn ab. Der Täter hatte entweder kein Handy dabei oder es war nicht eingeschaltet. Die Fasern des Verdächtigen, die wir am Tatort sichergestellt haben, bringen uns wie befürchtet nicht weiter. Sie stammen von kaufhausüblicher Massenware, nicht rückverfolgbar. Und unsere Internetrecherche bezüglich dieses Störungsgerätes, das man zum Ausschalten der Alarmanlage braucht, stockt ein wenig. Die Verkäufer im Internet sind nicht gerade auskunftsfreudig. Allerdings gibt es auch eine gute Nachricht. Und hier muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich das gestern im Eifer des Gefechts vergessen habe zu erwähnen. Mein Team konnte im Garten einen Schuhabdruck sicherstellen, den wir dem Täter zuordnen, da er vom Haus wegführte. Schuhgröße fünfundvierzig. Das Opfer hatte zweiundvierzig. Dem Profil des Abdrucks nach zu urteilen, trug der Täter Turnschuhe. Es handelt sich um einen Sneakerschuh der Marke Adidas, Modell Samba. Und genau da liegt das Problem. Es ist das meistverkaufte Modell. Eine Freundin von mir arbeitet in einem hiesigen Geschäft für Sportartikel. Ich habe sie gebeten zu überprüfen, wie oft der Schuh dieses Jahr bei ihnen im Laden verkauft wurde.«
»Und?«,