Ewan und Nash haben sich in der letzten S-Bahn auf dem Hinweg bereits die Trainingssachen angezogen, um Zeit zu sparen. Richtige Hallenschuhe hatten die beiden nicht. So mussten ein paar geputzte lederne Sportschuhe fürs Erste ausreichen. Der Gestank in den Umkleiden war wahrhaft widerlich beißend. Zu ihrem Bedauern ließ nahm der Geruch auf der Trainingsfläche nicht ab. Er mischte sich lediglich mit dem Duft der Sandsäcke aus Leder, was es etwas erträglicher machte.
Trotz seiner mittlerweile über 50 Jahre, sah Bobby “Bob“ Gleason noch sehr athletisch aus. Mit seinem Gewicht von rund 75kg und seiner eher kleinen Größe wirkte er eher schmächtig. Die Zähigkeit eines ehemaligen Profiboxers blieb seinem Aussehen jedoch erhalten. Die schwarzen Haare seines gepflegten Herrenhaarschnittes waren schon sichtlich von weißen Strähnen durchzogen. Bobby war Nash auf Anhieb sympathisch. Ob die Sympathie auf Gegenseitigkeit stieß, würde sich noch zeigen.
“Hey Jungs, kommt ran!“, rief Bobby Gleason, der umringt von weiteren Kämpfern in der Mitte des Trainingsraumes stand. Der Trainingsraum befand sich in einem Nebenraum des Rings. Er war komplett mit blauen Bodenmatten ausgelegt, die schon etwas in die Jahre gekommen waren. Es war gut möglich, dass es sich noch um die erste Ausstattung, seit Eröffnung im Jahr 1937 handelte. Zwei der 4 Wände waren komplett mit Spiegelflächen versehen. Hier und dort gab es Risse und Platzer in den Spiegeln. An den beiden anderen Wänden befanden sich Regale und Ständer mit Medizinbällen, Hanteln, Springseilen und allem möglichen anderen Boxequipment. Wenn auch der Glanz der goldenen Jahre der 40er und 50er nicht mehr sichtbar war, konnte man ihn umso mehr spüren. Verblasste Box-Plakate ließen zu dem an diese Zeiten erinnern.
“Also jetzt nochmal von vorn und in Kürze für unsere beiden Nachzügler. Mein Name ist Bobby Gleason, aber ihr könnt mich Bob oder Bobby nennen. Da ihr alle zusammen das erste Mal hier seid, müssen wir erst einmal euren Leistungsstand überprüfen. Seht dieses erste Training als eine Art Freiwilligentest. Wenn danach noch die Lust vorhanden ist, den begrüßen wir nächsten Freitag zum offiziellen Beginn. Vorab noch eine wichtige Regel: Wir behandeln unseren Gegner mit eben dem Respekt wie uns selbst. Wer das nicht versteht und praktiziert, wird es nicht in meinen und auch in keinem anderen Ring in New York schaffen. Darauf alle Fäuste in der Mitte zusammen!“ Coach Gleason streckte seine eiserne Faust in die Mitte der ungefähr 12 Jugendlichen. Diese folgten ihm und hielten ihre Fäuste daneben. “Gemeinsam stark!“, rief Coach Gleason, was von den Teilnehmern mit einem schalenden “Gemeinsam stark!“, erwidert wurde. Verwunderte Blicke machten sich bei einigen breit, da unter den Boxern auch zwei weibliche Stimmen erklangen. Neugierig blicke Nash auf. Nach einem scheuen Blick konnte er ein blondes und ein braun haariges Mädchen mit hochgebundenen Haaren erkennen. Erst bei genauem Hinschauen waren sie in den lockeren Sportsachen als Mädchen auszumachen. “Zuallererst soll es um die Feststellung eurer Ausdauer gehen. Hierfür werdet ihr gleich 5 min mit dem Seil springen. Anschließend messen wir eure Kraft im Liegestütz, Sit Ups und Kniebeugen. Zum Ende der heutigen Stunde, stellen wir euren Stand und die Schlagbewegungen anhand von Pratzen. und Sandsacktraining fest.“
Nash konnte bei einigen Boxern hochgezogene Augenbrauen als Ausdruck ihres Erstaunens erkennen. Für ihn als sportlichen Typen sollten die Tests keine größere Herausforderung bedeuten, dachte er bei sich. So mühten sich die ersten Boxer, daraus auch Mitschüler von Nash und Ewan, schon mit dem 5-minütigen Seilspringen mächtig ab. Viele sprangen viel zu hoch für das tiefdurchlaufende Springseil und benötigten damit viel mehr Kraft als nötig. “Leicht federn und tanzen wie ein Schmetterling“, rief Bob. “Die Kraft kommt aus den Fußgelenken und Waden und nicht aus den Oberschenkeln.“ Der weiche Mattenbogen erschwerte das Springen mit dem Seil etwas. Nash überlegte, wo er ein eigenes Springseil herbekommen würde. Eines war ihm außerdem klar. Die 3 Doller für das Training musste er sich irgendwoher besorgen. Seine Mutter würde ihm dafür nichts dazugeben können, gefragt hätte er sie aber sowieso nicht. Jedoch hatte Nash schon eine leuchtende Idee wie er das Geld zusammenbekommen würde. Nash und Ewan schlugen sich ganz gut für das erste Training. Beide waren auch im Schulsport absolute Einser-Kandidaten. Auch die Schlagtechniken sahen bei beiden ganz passabel aus, was mit Sicherheit der Kindheit und Jugend in den Straßen New Yorks geschuldet war. Zum Ende des Trainings hatte sich der Geruch erneut verändert. Die Spiegel waren mittlerweile beschlagen und es tropfte von der Decke. Es roch nach frischem Schweiß und dem vergehenden Duft von Deodorant und Waschmittel.
“Wem das alles hier gefallen hat, den begrüße ich gern am nächsten Freitag erneut. Seid euch sicher, dass es bestimmt auch mal härter wird und nicht immer Spaß macht. Trotzdem wird euch das Boxen viel bringen und auch in anderen Lebenslagen viel helfen. Besorgt euch saubere Sportschuhe bis zum nächsten Mal. Ich bedanke mich bei euch und fürs Erste soll es das gewesen sein.“ Abschließend brachten alle Boxer ihre Fäuste zusammen und verabschiedeten sich lautstark.
Nash fühlte sich elektrisiert. Er konnte seinen ganzen Körper spüren und genoss die abklingende Anstrengung sehr. Er hatte endlich mal wieder das Gefühl zu leben. Der Muskelkater der nächsten Tage würde für ein Anhalten des fantastischen Gefühls sorgen. Ewan ging es ähnlich und so machten sich beide Freunde um halb 10 abends fachsimpelnd und wetteifernd auf den Heimweg. Die Nacht würde Nash auf Ewans Couch verbringen, um seinem Stief-Vater Giuseppe aus dem Weg zu gehen. Während des Einschlafens drehten offene Fragen in Nashs Kopf. Wer war das Mädchen mit den braunen Haaren? Würde sie am nächsten Freitag wieder kommen? Schon deswegen wollte Nash erneut hingehen. Um Ewan etwas darüber zu erzählen war es allerdings noch zu früh. Da Nash schon eine Idee hatte, um an Geld zu kommen, stand jetzt nur noch das Wann im Raum. An dieser Frage hängend sank Nash müde und zufrieden in den Schlaf.
Montag, 12. September 1960, Wissen ist Macht
An diesem Montag ging Nash viel ausgeglichener zur Schule. Das Boxtraining am letzten Freitag wirkte immer noch nach. Das Wochenende zu Hause verlief einigermaßen friedlich. Seit Giuseppe mit in die Wohnung von Nashs Mutter Sofia gezogen war, war nichts mehr wie früher und der Haussegen hing seltener gerade als schief. Giuseppe, der selbst kinderlos war, hegte nicht mal stiefväterliche Gefühle. Nash war ihm eher ein Dorn im Auge. Nash hingegen durchschaute Giuseppe sehr schnell. Er bemerkte, dass Giuseppe statt der Liebe zu seiner neuen Frau eher die Häuslichkeit und Fürsorge genoss. Nash konnte Guiseppe keine direkten Frauengeschichten nachweisen. Allerdings bemerkte er, dass dieser sich wie ein Gigolo benahm, wenn die beiden ohne Sofia unterwegs waren. Den Samstag jedenfalls verbrachte Nash bei Ewan mit Seilspringtraining und Lernarbeit für die Abschlussarbeit. Am Sonntag war Nash im Park auf dem Football-Feld und hing mit Kumpels rum. Einen freien Tag pro Woche stand Nash sich immerhin ein. Sonst gab es wenige Momente, in denen er nichts zu tun hatte. Auf dem Weg zur Schule erzählte Nash Ewan von dem Plan, den er am Sonntag komplett überdacht hatte. Nash wollte Schülern mit schlechten Noten, aus der 9ten und 10ten Klasse seiner Schule anbieten, die wichtigsten Jahresklausuren und Hausarbeiten zu übernehmen. Da Nashs Schulaufzeichnungen nahezu lückenlos waren und er als einer der Besten seiner Klassenstufe galt, würde es sich förmlich aufdrängen, witzelte er gegenüber Ewan. Da die Inhalte des Lehrplans immer dieselben waren, wusste er welche Arbeiten und Aufgaben für einen guten Notenspiegel ausschlaggebend waren. Außerdem wollte er vorgefertigte Lernkarten anbieten und einmal in der Woche Nachhilfe geben. Ewan, der ebenfalls ein guter Schüler war, war von der Idee begeistert. Er bot an, Nash bei der Nachhilfe und beim Erstellen der Lernkarten zu helfen. Das Schreiben von Klausuren für andere Schüler war Ewan zu heikel. er wollte nicht von der Schule fliegen und hielt es für eine zu riskante Idee für Nash. Ewan brauchte im Gegensatz ´zu Nash kein Geld für das Boxtraining zu verdienen. Da seine Eltern noch verheiratet und beide bei großen Unternehmen in Anstellung waren, fehlte es Ewan eigentlich an nichts. Die Kosten für das Boxtraining übernahmen die Eltern gern und selbstverständlich. Nash ging außerdem das Mädchen nicht mehr aus dem Kopf, was schon allein genug Grund war das Geld fürs Training zu organisieren.
Am Mittwoch der gleichen Woche wurde Nash von einem riesigen Jungen