Auf dem Pfad der Götter. Marc Short. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marc Short
Издательство: Bookwire
Серия: Auf dem Pfad der Götter
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742752376
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ein Krieger nicht in den Tod.“

      Wie konnte er der Fremde wagen, von einer Entführung zu sprechen? Und welche Begriffe verwendete er? Zog der Unbekannte ein Spiel der Verwirrung auf, um ihn im Dunkeln zu lassen?

      „Dass ist nicht wahr!“, rief er. „Emilia ist hier! Sie muss hier sein und du wirst mich zu ihr führen“, ereiferte sich Tibor. „Los jetzt, zeig mir, wo du sie hingebracht hast.“

      Das Haar des Fremden flog wie ein Bündel giftige Schlangen umher, als dieser den Kopf schüttelte und dabei wieder zu reden begann. „Ich kenne deine Mutter nicht, ich habe sie nicht gesehen. Dafür kenne ich den Gegner, ihnen bin ich nach Abschluss ihrer Tat begegnet. Ich konnte diese Hütte davor bewahren, weiter verwüstet zu werden.“

      „Und was ist mit denen, die Emilia mit sich genommen haben? Wohin gehen sie? Wohin bringen sie Emilia?“, fragte Tibor.

      „Die Entführer sind längst über alle Wasser. Ihnen kannst du nicht auf herkömmlichen Weg folgen.“

      „Aber, was wollten sie hier?“, fragte Tibor. „Was wollen sie mit meiner Mutter?“

      „Die Wahrheit ist“, brummte der Fremde, „sie wollten dich! Sie dachten, dich beim Abendmahl zu erwischen.“

      „Warum mich? Wollen sie mein Schiff, mein weniges Geld, kostenlosen Eintritt ins Museum?“

      Der Fremde überging seine Fragen. „Du hast noch die Wahl deinen Weg selbst zu bestimmen“, sagte der riesenhafte Mann. „Dazu musst du nur eines tun: Komm mit mir! Folge mir und es wird dir anders ergehen. Zumindest wirst du nicht ohne Vorbereitung sein, wie deine Mutter.“

      Tibor spürte, dass dem anderen die Kraft ausging. Vermutlich war er nicht gewohnt, so viel zu sprechen. Oder der vorausgegangene Kampf hatte ihn mehr mitgenommen, als er zugab. Ein Lächeln glitt über Tibors Lippen. Vielleicht hatte er noch eine Chance, obwohl der Andere ein Kraftpaket und geschickt im Kampf war. Ja, er konnte ihn schlagen – mit Worten. „Du hast mir noch nicht einmal deinen Namen verraten. Dir soll ich vertrauen, einem Namenlosen? Einem Durchgeknalltem, der bei meiner Mutter einbricht, sich tot stellt und für sie ausgibt? Einem Mann, der sich als Krieger bezeichnet und Begriffe wie Einherjer in den Mund nimmt?“ Er wartete auf die Antwort, doch nur ein schwer zu überhörendes Keuchen antwortete ihm. Wahrscheinlich versuchte der Fremde, sich zu bändigen, seine Gefühle im Zaum zu halten. Gut so. „Du willst mich mit dir nehmen, ja? Warum wartest du dann nicht in meiner Wohnung auf mich, ja, warum hier?“ Und dann versetzte Tibor ihm noch einen Dämpfer, sagte betont langsam: „Mut und Wut … keine sonderlich guten Ratgeber.“ Im selben Moment bemerkte der junge Mann, dass er einen Schritt zu weit gegangen war. Mit zwei Sätzen war der Fremde bei ihm, packten ihn mit solcher Wucht an den Schultern, dass sie beide quer durch den Raum taumelten. Erst die Wand in seinem Rücken stoppte den schmerzhaften Tanz. Nur kurz und nur, um noch gewaltvoller weiterzugehen: Tibors Körper hob es einige Zentimeter in die Luft und gegen die Wand, dass ihm der letzte Atem aus dem Körper gepresst wurde. An dieser Stelle kam er zur Ruhe. Doch diese war trügerisch. Sein Körper drängte nach unten, aber die Hände nagelten ihn an Ort und Stelle fest. Der Atem des Angreifers blies ihm wie eine Bö ins Gesicht, die Schweißperlen des anderen tropften in sein Gesicht, zudem kitzelten ihn dessen Haarsträhnen. Er verzog angewidert das Gesicht und schloss die Augen.

      „Ich bin Liftar Masir. Und ich bin gekommen, um dir zu helfen! Ich wollte die Angreifen aufhalten, aber das ist mir nicht gelungen. Wie du siehst, haben sie mich bewusstlos geschlagen und hier liegen gelassen.“

      „Als Zeichen, als eine Warnung an mich?“, fragte Tibor.

      „So könnte man es nennen“, stimmte Liftar zu.

      „Sie wollen verhindern, dass ich dir vertraue. Mich vor dir warnen. Aber warum? Sie hätten genauso gut mit mir sprechen können. Vielleicht hätten wir eine andere als diese Lösung gefunden“, sagte Tibor.

      „Bei den Göttern, du brauchst keine Angst vor mir zu haben“, sagte Liftar. „Ich bin auf deiner Seite. Aber um etwas ausrichten zu können, um deine Mutter wieder zu finden, musst du mit mir kommen!“

      Die kräftigen Arme Liftars entließen ihn aus ihrem Griff.

      Alle seine Knochen schmerzten und Tibor fühlte sich, als hätte man ihn durch den Fleischwolf gedreht. Sein Leib, so vermeinte er, wäre nur noch Brei.

      „Ich gebe dir Zeit bis morgen Abend, wenn der Nebel kommt. Dann verschwinden wir von hier. Du musst mir noch nicht wie einem Freund vertrauen, aber du könntest zumindest anfangen, Vertrauen zu gewinnen“, sagte Liftar ruhig und betont. Er schnaufte kaum mehr.

      „Welcher Nebel soll kommen?“, wollte Tibor noch fragen, doch da war die Gestalt Liftar Masirs schon durch die Haustüre verschwunden. Nebel, sagte er sich, nicht schon wieder Nebel! Für heute waren das genug nebulöse Aussagen und Ereignisse. Tibor beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Er musste erst einmal schlafen und das würde er hier tun. Sein Körper brauchte das dringender als alles andere. Ihm fehlte die Kraft, noch zu sich nach Hause zu gehen, und irgendwie fühlte er sich, als wäre ihm sein Zuhause geraubt worden. Zeit, mir Gedanken zu machen, habe ich auch morgen noch – bis der Nebel kommt …. Dann besteht zumindest die Chance, dass Brauchbares herauskommt.

      Emilia, so schien es, war mit Liftar Masir verschwunden. Doch nicht hoffnungslos. Mit Liftar könnte er ihren Spuren folgen, welche Spuren das auch immer sein würden. Tibor würde es herausfinden, das versprach er sich. Und um schlafen zu können, dachte er an die schönen Momente mit seiner Mutter zurück. Tief im Herzen glaubte er, sie nur finden und lebend wieder zu sehen.

      4. Die Norne

      Liftar Masir war zurück auf seinem Schiff. So schwer hatte er sich seine Aufgabe nicht ausgemalt. Und ebenso wenig, dass der erste Kontakt so verlief: Nämlich ganz und gar aus dem Ruder lief! Das war aber auch der Entführung von Tibors Mutter zu verdanken, die alles über den Haufen geworfen hatte. Etwas rüde war daher die nachfolgende Begegnung verlaufen. Aber konnte er seine Herkunft verleugnen? Sein Leben und seine Erziehung verbergen? Kaum … und doch hatte der junge Mann nicht erkannt, wer er war. „Bei den Göttern, ich bin ein Wikinger der alten Zeit“, murmelte Liftar zu sich. Und genau so hatte er gehandelt. Obwohl beeindruckt von der Kraft und Entschlossenheit des Gesuchten, konnte er ihn nicht so behandeln. Dass es dennoch geschehen war, lag an vorausgegangen Kampf! Bei Odin, er hätte früher reagieren müssen, die Zeichen erkennen sollen und sich nicht von dieser dunkelhaarigen Frau mit dem blassen Teint verwirren lassen dürfen. Aber wie, fragte sich Liftar, wie hätte ich das tun sollen, wenn da plötzlich eine Göttin vor mir steht? Eine, die aussieht wie die Herrscherin des damaligen Totenreiches Hel?

      Ein Zittern durchlief seinen Körper. „Es ist erst der Anfang. Die Schlacht hat noch längst nicht begonnen,“ schwor er sich. „Ich werde dich finden, Göttin des Todes.“ Dann so wusste er, würde auch Tibor seine Mutter wieder finden. Liftars Augen glitten über die im Glanz der Sterne leuchtende See. Silbern war die wogende Oberfläche und darauf spiegelte sich ein riesiges Schiff mit Drachenkopf.

      Mein Liebstes aller Schiffe, die HAITHABU, dachte der Einherjer und konnte sich eines Flämmchens Stolzes nicht erwehren. Das einzige Wikingerschiff mit zwei Masten, was so in der Geschichte nie erwähnt wurde.

      Sein Stolz verflog und Sehnsucht legte sich darüber, als er sie sah. Sie, ein Mädchen, so schien es, im zarten Alter von achtzehn Jahren. Aber das kann täuschen. Bei diesem Gedanken warf er einen zu kurzen Blick auf sein Spiegelbild.

      Die Nacht begann in diesen Stunden ihr Tor zu öffnen und mit ihr brach die Flut herein. Mitten in ihr schritt dieses Mädchen in die Höhe, als würde sie einen Thron besteigen, um schließlich mit dem nassen Element im Verbund weiter zu gleiten wie eine Prinzessin. Ihr Gang war geschmeidig, ihre Gestalt nackt und aufrecht, und sie hatte nur ein Ziel vor Augen: das Eiland voraus. Denn dort befand sich Tibor, der junge Mann, der auf diesem Flecken Erde geboren worden war.

      Liftar wusste von diesem Ziel, schließlich hatte er die Norne auserwählt und auf den Weg geschickt.